Der Abt von LINUX


Josella Simone Playton


Warum die Poljar-Expedition gescheitert ist? Himmel, ich habe die Sache doch schon dreitausend Mal erzählt! Reichen Ihnen die offiziellen Darstellungen der Ereignisse nicht?

Ja, natürlich steht da nur Blödsinn drin. Aber das ist der offiziell abgesegnete Blödsinn. So entsteht eben Geschichtsschreibung! - Nein, den Religionskrieg hat es nie gegeben. Genaugenommen, es war kein Religionskrieg. Oder nicht so richtig.

Die Fakten waren anders. Schon kurz nach der Entdeckung von Poljar's Zentralstern und Poljar selbst stand fest, daß Poljar sehr erdähnlich ist und auch von einer intelligenten Rasse bewohnt wird. Wie immer bei erdähnlichen Planeten waren diese uns in biochemischer und anatomischer Hinsicht leidlich ähnlich. Ihre Kultur entsprach etwa der mitteleuropäischen des 14. Jahrhunderts.

In solchen Fällen geschieht immer dasselbe: Quarantäne. Diese Kultur eines Planeten mit einer vielversprechenden intelligenten Rasse sollte sich weiterentwickeln, ohne durch das Wissen um die Existenz des Galaktischen Imperiums und die dadurch bedingten Fremdeinflüsse gestört zu werden. Das ist geltendes Recht. Wie es auch der Menschheit erst im 21. Jahrhundert widerfuhr, sollten die Poljarner noch Jahrhunderte oder Jahrtausende sich allein im Universum wähnen dürfen.

Soweit steht es auch in den Annalen des Terranischen Institutes für Zeitgeschichte. Was dort nicht steht ist die Rolle, die die Firma QMS gespielt hat.

QMS kennen Sie? Ja, natürlich. Jeder kennt sie. Jeder braucht WinWarp 2124. Jeder hat es, jeder hat für die Lizenz bezahlt, seitdem dieses Betriebssystem über ein Modul verfügt, das bei Netzanschluß sofort die Belastung des Kontos des Anwenders betreibt, wenn dieser WinWarp als Raubkopie erworben haben sollte. Uraltes Verfahren, reicht in das ausgehende 20. Jahrhundert zurück.

Jeder hat WinWarp, und deshalb ist der Verkaufserfolg in den Augen von QMS unbefriedigend. Da QMS seinerzeit zwei große Softwarekonzerne geschluckt hat und deshalb konkurrenzlos dasteht, ist auch die Innovationsrate nicht so hoch, als daß von daher der Anreiz für ein mächtiges Update-Geschäft kommen könnte. QMS beschäftigt deshalb immer weniger Software-Experten und immer mehr Manager. Und die tun den ganzen Tag nichts anders, als sich nach neuen Einnahmequellen umzusehen. Sogar Kaffee und Ventilatoren verkaufen sie schon! Natürlich mit dem WinWarp-Logo drauf.

Einem von diesen Marketing-Strategen ist der Bericht über die Entdeckung von Poljar und die Beschreibung der dortigen Kultur in die Hände gekommen.

Die beherrschende Religion auf Poljar hat zur Entstehung ähnlicher Strukturen geführt, wie sie die terranische Geschichte auch kennt: Ordensgemeinschaften und Klöster. Und da auf Poljar die Buchdruckkunst noch nicht erfunden worden war, sahen einige dieser Klöster ihre Aufgabe darin, den 'Hort des Wissens' durch manuelles Abschreiben der vorhandenen Werke der Literatur zu bewahren, genauso, wie es von mittelalterlichen Klöstern auf der Erde bekannt ist.

Diese Tätigkeit, so ist sogar einem Manager sofort klar, schreit nach datentechnischer Unterstützung - hat nicht ein bekannter Autor des 20. Jahrhunderts gesagt, wenn man mit Computern nichts anderes als Textverarbeitung machen könnte, dann wäre deren Existenz schon gerechtfertigt?

Natürlich ließen die Gesetze des Galaktischen Imperiums nicht zu, auf einem unter kultureller Quarantäne stehenden Planeten Computer zu verkaufen. Aber QMS verfügte über eine Schar besserverdienender Rechtsanwälte und war sich sicher, daß diesen schon etwas einfallen würde. Sie rüsteten das firmeneigene Schiff GATES OF EDEN - dessen Name ein Wortspiel sein soll, aber ich weiß nicht, welches - aus und nahmen Kurs auf das Poljar-System. In den Laderäumen das, was man für den Handel mit 'primitiven' Völkern nach Meinung von QMS ebenso braucht: Laptops, Solarmodule, Auf-Alles-was-flach-ist-Drucker, jede Menge Schnittstellenkabel, ein oder zwei gedruckte Manuale und einige Tonnen bunte WinWarp-Embleme, die auf allem kleben konnten. Ebenso jede Menge WinWarp-Kaffee und einen Haufen Ventilatoren, farblich aufeinander abgestimmt, und ein Restbestand alter, unverkäuflicher 32-Bit Kaffeemaschinen mit Kommandozeilenoberfläche.

Außerdem befanden sich ein paar Dutzend Software-Experten an Bord. Damit blieb Know-How-mäßig der Mutterkonzern QMS zwar wehrlos zurück, aber sie verfielen auf die Idee, ihre Hotlines mit Juristen zu besetzen. Jedem Kunden, der Probleme hatte, konnten so viel besser die Rechtsfolgen klar gemacht werden, wenn er nicht einsah, daß er selbst ein Fehler gemacht hatte.

Auf dem Weg nach Poljar wurde die Begründung formuliert, die den dortigen Verkauf von Datentechnik möglich machen sollte. Einzelheiten kenne ich nicht, aber es lief wohl ungefähr darauf hinaus, das Ganze als Forschungsprojekt zu deklarieren. Dann ging es irgendwie. Außerdem mußte darauf geachtet werden, daß die Poljarner nicht merkten, daß die Mitglieder der QMS-Expedition von außerhalb ihres Heimatplaneten kamen. Deshalb landete die GATES OF EDEN auf der Nachtseite von Poljar, in einer wüsten, kargen Bergwelt, die von den Poljarnern nicht bewohnt wurde. Unsichtbar, unbemerkt und lautlos sollte das Schiff auf diesem fremden Boden aufsetzen.

Die Landung war erfolgreich insofern, als sie wie beabsichtigt unsichtbar und unbemerkt verlief: Die GATES OF EDEN setzte auf einer Karsthöhle auf. Mit der Lautlosigkeit klappte es dann nicht mehr so gut, weil diese Höhle daraufhin einbrach, und das Schiff einige hundert Meter tiefer als beabsichtigt zum Stillstand kam, völlig unbeschädigt und mit 102 Grad Schlagseite. Es wurde sofortvon einigen Millionen Tonnen nachrutschendem Geröll, ebenfalls relativ unbeschädigt, bedeckt. Es gab nicht die geringste Aussicht, das Schiff mit Bordmitteln je wieder flott zu machen.

Während der Räumungsarbeiten stellte man fest, daß der stationäre NavigationsComputer, ein Mainframe, während der Landung gerade eine Sicherheitskopie angestoßen hatte. Unglücklicherweise rutschte ein entscheidendes Schnittstellenkabel bei der unerwarteten Rotationsbewegung des Schiffes aus einer Buchse und wurde durch ein in der Nähe stehendes Besatzungsmitglied geistesgegenwärtig wieder hineingesteckt - allerdings mit Gewalt, und leider um einen Pin verschoben. Dadurch war der gesamte Datenbestand der Sicherheitskopie um ein Bit verschoben worden.

Bevor die Entscheidung, das Schiff aufzugeben, endgültig getroffen worden war, hatte der Navigationsinformatiker festgestellt, daß es eine Inkonsistenz zwischen Sicherheitskopie und Rechner gab. Einer begnadeten Eingebung folgend spielte er die Sicherheitskopie wieder ein.

Dadurch waren die vielen Gleitkommawerte des Stellaratlasses alle um ein Bit verschoben, was gegebenenfalls Überraschungen verursacht hätte, wenn man nach diesen Daten navigiert hätte. Da aber die Systemsoftware jetzt ebenfalls um ein Bit verschoben war, trat Navigationscomputer-mäßig Ruhe im Schiff ein, und die Entscheidung zur endgültigen Räumung wurde so noch erleichtert.

Es gelang der Besatzung, die die Bruchlandung ziemlich unverletzt überstanden hatte, einen Gang an die Oberfläche zu sprengen und diesen für dauerhafte Benutzung sicher zu machen. Nun mußte man eben zu Fuß die Ware zu den Klöstern der Pojarner-Orden bringen, denn die Beiboote ließen sich nicht mehr ausschleusen. Das Verlassen des Schiffes war auch deshalb unumgänglich, weil die Toiletten wegen der 102 Grad Schräglage nicht mehr benutzt werden konnten.

Abgesehen davon, daß die Marketing-Leute von QMS schon lange nicht mehr darin geübt waren, viel zu verkaufen, so waren sie schon gar nicht darinnen geübt, mit der Ware auf dem eigenen Rücken den Kunden über Tausende von Kilometern aufzusuchen, dabei wilde Bergregionen und ein paar Fiebersümpfe zu durchqueren. Die Kloster, die sie erreichen wollten, waren auf ihren Karten ganz genau verzeichnet - leider nichts anderes, denn es gibt kein genaues Kartenmaterial von Planeten, die unter kultureller Quarantäne stehen.

Sie erreichten das Kloster von Omgpantschen. Die Ware war vollzählig und unbeschädigt, die Mitglieder der Expedition war ziemlich vollzählig - von den Hüpfmuränen in den Sümpfen und ihrem Appetit hatte auch keiner etwas gewußt. Immerhin gewöhnten sie sich langsam an einen Grad der Konkretheit ihrer Aufgaben, wie sie ihn bis dahin nur von Computerspielen, nicht aber aus ihrer eigenen Arbeitswelt kannten.

Erdmenschen sind den Poljarnern zwar ähnlich, aber doch nicht so ähnlich, als daß die Mönche des Klosters nicht sofort die Andersartigkeit der Besucher erkannt hätten. Sie wurden eingelassen und umgehend in die 'Krankenstation' des Klosters verfrachtet. Die QMS-Leute konnten sich nicht recht wehren, denn die Annahme, daß wenigstens irgendjemand auf Poljar Englisch kann, war falsch: Wenn das Imperium schon eine kulturelle Quarantäne verhängt, dann gründlich.

In der Krankenstation erwartete die Erdlinge eine neue Überraschung: Unter den Mönchen gab es auch Frauen. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, daß eine Religionsgemeinschaft nicht unbedingt so sexualpathologische Züge entwickeln muß wie das in etlichen Religionsgruppen auf der Erde der Fall gewesen war. Abgesehen von der unterschiedlichen biologischen Funktion der Geschlechter, die genauso wie beim Menschen war, schien es keine weiteren Unterschiede oder Diskriminierungen zu geben. Allerdings schienen pflegende Tätigkeiten - wie bei den Menschen - auch bei den Poljarnern eine Domäne der Frauen zu sein.

Die geringfügigen anatomischen Unterschiede zwischen Poljarnern und Menschen sind nun dergestalt, daß die Poljarner-Frauen einem Erdmenschen ungemein attraktiv erscheinen - niemand weiß bis heute, was sich die Evolution bei solchen Riesentitten gedacht hat - und deshalb legten die meisten Mitglieder der Expedition keinen Wert darauf, wieder allzuschnell aus der Krankenstation herauszukommen, und bei den meisten wurde der eigentliche Zweck der Expedition wenigstens zeitweilig zu einer sehr peripheren Angelegenheit.

Was auf den ersten Blick wie ein unvorhergesehenes Hindernis bezüglich des Zieles der Gesamtexpedition aussah, erwies sich sehr rasch als ungemein nützlich. Es gibt keine bessere Methode, die Sprache einer anderen Kultur zu lernen als sich mit einem Mädchen aus diesem Kulturkreis einzulassen. Und während die Sprachhürde immer weiter fiel, ergab sich immer häufiger die Gelegenheit, die mitgebrachten Schätze vorzuführen. Auch andere Gelegenheiten, die mit dem eigentlichen Zweck der Expedition nicht unbedingt etwas zu tun hatten, wurden zuweilen ergriffen, ohne daß dieses Eingang in die Logbücher fand.

Die Computer fanden durchaus das Interesse der poljarnischen Klosterbewohner - allein schon deshalb, weil die Bildschirme heller leuchteten als ihre rußenden Öllampen. Aber auch darüber hinaus zeigten die poljarnischen Mönche geistige Beweglichkeit - leider mehr und ganz anders, als man erwartet hatte.

Dazu muß man wissen, daß es in der langen und - wie auf der Erde - auch blutigen Geschichte Poljars einen evolutionären Prozeß gegeben hatte, der ganz allmählich potentielle intersoziale Reibungspunkte abgeschliffen hatte. Für irdische Verhältnisse kann man das noch am ehesten mit gepflegten Umgangsformen vergleichen. Auf Poljar hingegen war eine der Konsequenzen dieses Prozesses das Fehlen jeder Form eines Imperativs. Es ist nicht nur unmöglich, in den poljarnischen Sprachen einen Auftrag oder einen Befehl zu formulieren, ja, der Denkweise der Poljarner war das Konzept einer Anweisung und das Befolgen eines fremden Willens völlig fremd.

Es war den Poljarnern mithin völlig unmöglich, etwas mit einer Maschine anzufangen, deren Funktionieren letztlich auf dem Befolgen klarer Anweisungen beruhte.

Dieses ist für einen Erdmenschen nicht nachvollziehbar. Sie konnten noch so wohlüberlegte Vergleiche formulieren, wie etwa das Pergament, auf dem man mit einem Griffel etwas zeichnet, und wie das doch eigentlich ganz genau dasselbe sei wie die Nachbildung dieses Pergamentes in einem Textverarbeitungssystem auf einem Rechner. Die Poljarner konnten damit nichts anfangen. Auch das Argument, daß ein modernes Textsystem jede Rechtschreibereform vorwegnehmen kann, imponierte den Poljarnern gar nicht: Sie hatten gar keine rigiden Rechtschreiberegeln, die zu reformieren gewesen wären, und waren seit Jahrtausenden glücklich damit.

Das allernächste, was möglicherweise von den Poljarnern akzeptierbar war, war ein Rechner mit einem fundierten Maß an eigenem Willen, ein Rechner, der überzeugt werden mußte und mit dem man in kooperativen, gemeinsamen Anstrengungen etwas erreichen konnte - aber am besten in der Weise, daß der Rechner weitgehend von sich aus erschloß, was zu tun notwendig war und was nicht.

Schlußfolgerung: Das gesamte System mußte umgeschrieben werden. Nicht nur Anwenderprogramme, nein, sogar das gesamte Betriebssystem.

Eine harte Herausforderung für die Softwareexperten der Expedition. Da waren nicht Systemaufrufe zu iplementieren wie etwa: "Mache mir die Datei mit dem Namen so-und-so zum Schreiben auf und liefere mir ein Handle zurück, mit dem ich fürderhin auf diese Datei schreibend zugreifen kann!" sondern: "Was hälst Du davon, Dir einmal das Dateisystem anzusehen? Würde es Dich interessieren, festzustellen, ob es da eine Datei mit dem Namen so-und-so gibt? Was meinst Du, was man damit machen kann? Ich habe mir schon einmal überlegt, ob man diese Datei eventell zu öffnen ins Auge fassen könnte. Und was alles schief gehen könnte - interessiert uns das? - Oder wollen wir nicht lieber etwas ganz anderes tun, wie etwa die Systemuhr verstellen oder eine Partition zu formatieren? Was meinst Du?"

So oder so ähnlich hatte jede Schnittstelle auszusehen, auf unterster Systemebene genauso wie in der graphischen Benutzerschnittstelle.

Die Situation erforderte eine massive Umschreibeaktion der gesamten Software im Lieferumfang. Was zunächst wie ein Alptraum aussah, entpuppte sich jedoch sehr rasch als eine Situation, die sich viele der Expeditionsteilnehmer schon immer gewünscht hatten: In angenehmer Umgebung und mit angenehmer Gesellschaft mal wieder wirklich etwas Produktives und völlig neuartiges tun zu können. Wo war das denn noch möglich, im SW-industriellen Kontext auf der Erde bei QMS, wo man höchstens noch Software zu warten hatte und sich immer noch mit Modulen herumschlug, die schon Jahrhunderte alt waren? Keine Altlasten, keine Kompatibilitätsrücksichten! Sollte es da nicht möglich sein, mit den paar philosophischen Schwierigkeiten der poljarnischen Denkweise fertig zu werden?

Außerdem glaubten die Expeditionsteilnehmer, die poljarnische Denkweise bald meistern zu können. So war es zum Beispiel relativ leicht, eine der Poljarnerinnen zu verführen. Eine Frage wie "Wollen wir zusammen schlafen?" war zwar schon viel zu konkret und im Poljarnischen auch so direkt gar nicht formulierbar - aber man brauchte diese Frage ja eigentlich gar nicht, da die Poljarnerinnen zuverlässig von selbst auf diese Idee kamen. Vielleicht, so wurde vermutet, war das das Modell einer machbaren Schnittstellenarchitektur für poljarnische Software: Die einzelnen Komponenten mußten einfach schon einmal vorausschauend das tun, was irgendwelche Systemaufrufe von ihnen irgendwann einmal verlangen könnten. So einfach war das!

Die softwaretechnischen Herausforderungen waren erheblich. Die Implementierung des alten COME-FROM Befehls, irgendwann einmal als noch schlimmere Version des Sprachelementes GOTO kommentiert, wäre vergleichsweise einfach gewesen. Ein Expeditionsteinehmer erwog, in guter Tradition eine Veröffentlichung mit dem Titel "Conceptual Precision in Programming Languages considered harmful" zu schreiben - aber für eine Veröffentlichung fehlten sowohl Publikum als auch die nötige Software - poljarnische Software, versteht sich.

Die Umschreibeaktion kostete Zeit. In altbewährter Management-Methode war der geschätzte Zeithorizontbereits erreicht, als man mit dem Zeitabschätzen fertig war. Andererseits gab es aber kein echtes Argument, in unüberlegte Hast zu verfallen - es gab ja keinen Weg zurück zur Erde, und praktisch alle Expeditionsteilnehmen fühlten sich in dieser Arbeitsumgebung pudelwohl.

Die steigende Vertrautheit mit der einheimischen Kultur eröffnete immer neue Einblicke. Es war zum Beispiel in den poljarnischen Klöstern Usus, wie in den historischen Vorbildern auf der Erde auch andere Fertigkeiten zu pflegen. So gab es eine Braukunst. Die auf Poljar gebrauten Getränke enthielten zwar keinen Alkohol, aber etwas anderes, was mindestens genauso wirksam war. Diejenigen Expeditionsteilnehmer, die rudimentäre biochemische Kenntnisse hatten, unternahmen mutige Eigenversuche, um mit den beschränkten vorhandenen Analysemöglichkeiten etwas über den Wirkstoff dieser Getränke herauszubringen. Aber dieses gelang nicht in der für eine wissenschaftliche Veröffentlichung vielleicht notwendigen Strenge.

Dafür war es nach dem Genuß hinreichender Mengen dieser berauschenden Getränke ohne weiteres möglich, sich in die poljarnische Denkweise hineinzufinden. Das äussert sich zum Beispiel darin, daß man dann beim Programmieren ohne weiteres innerhalb von zwei Zeilen fünfmal die Programmierspache wechseln kann - zweifellos ein wesentlicher Fortschritt in Richtung der poljarnischen Intellektual-Pragmatik, aber auch eine harte Herausforderung für jeden Compiler.

Die Adaption der poljarnischen Denkweise hatte Folgen - die Expeditionsteilnehmer begannen zunehmend, sich selbst, ihre Beziehungen untereinander und ihr eigenes kulturelles Erbe sowie alle Erinnerungen an das Leben auf der Erde aus poljarnischer Sicht zu sehen. Aus poljarnischer Sicht sehen heißt: etwas aus einer Vielzahl von Blickwinkeln zu sehen, wobei 'Vielzahl' als eine besonders progressive Art von Plural zu nehmen ist. Nicht nur wegen der Unmöglichkeit, je wieder zurückzukehren, modifizierte sich die Loyalität zum alten Arbeitgeber QMS nicht unwesentlich.

Mit der Unmöglichkeit, je wieder zurückzukehren war das allerdings so eine Sache. Die Poljarner lernten, und ihre mit ihnen immer mehr vertrauten Gäste erstaunte es nicht allzusehr, daß eines Tages in den kühlen Klosterräumen der erste Fusionsreaktor stand. Ein poljarnischer Fusionsreaktor, versteht sich, der nicht etwas so ordinäres tut wie vermöge seiner Konstruktion die Deuteronen zur Fusion zu zwingen. Nein, ein poljarnischer Fusionsreaktor läßt die Deuteronen von selbst auf die Idee zur Fusion kommen. Das ermöglicht, sich nicht mit solchen Petitessen wie magnetischem Einschluß und initiale Neutroneninjektion befassen zu müssen. Außerdem lief diese Konstruktion nicht nur mit Deuterium, sondern auch mit Schuhcreme oder den Exkrementen der poljarnischen Hüpfmoränen, die diesen planetenweit in ungewöhnlich großen Quantitäten entliefen, da sie seit Landung der Terraner aus ungeklärter Ursache Verdauungsstörungen hatten.

Apropos ungeklärt: Auch die Problematik der Quanten-Computer bekamen die Poljarner in den Griff, da es gerade ihrer Denkweise besonders gemäß war, eine Maschine zu konstruieren, die sich gleichzeitig in jedem ihrer möglichen Zustände aufhalten konnte. Damit war für alle Zeiten die Berechenbarkeit jedweder Funktion sichergestellt, wenn der zugehörige Algorthmus nur endlich lange lief. Ob poljarnische Software das Ergebnis einer solchen Berechnung auch herausrückte war natürlich eine ganz andere Sache, aber als theoretisches Erebnis war es sehr schön.

Es konnte nicht lange dauern, bis den Poljarnern die Herstellung der ersten Raumschiffe gelang - genaugenommen Klosterneubauten, denen der imperative Zwang zur eindeutigen geographischen Lokalisation genommen worden war. Damit rückte die Rückkehr zur Erde in den Bereich der Möglichkeiten!

Rückkehr zur Erde würde aber auch heißen: Rückkehr zu QMS. Und Beglückung der irdischen Zivilisation mit poljarnischen Produkten. War das nicht die Erfüllung eines historischen Trends, seit schon im 20. Jahrhundert die anti-imperative Funktionalität durch die Erfindung der 'Allgemeinen Schutzverletzung' vorweggenommen worden war?

Es gab nie, wirklich niemals eine eindeutige Entscheidung zur Invasion - die poljarnische Denkweise läßt sowas Konkretes gar nicht zu. Aber irgendwie ist es dann doch eben passiert. Die Erde war fast ohne Chance. Wie soll man ein Kriegsraumschiff als solches erkennen, wenn es aussieht wie eine Wüstenfestung, die fliegen kann, und wenn während dreistündiger Verhandlungen zwischen Poljarnern und Terranern es letzteren nicht ein einziges Mal klar wurde, worum es geht?

Nun ja, 'fast ohne Chance' ist übertrieben. Als der neuinstallierte Weltrat der zwölf Äbte der Erdmenschen ihr geliebtes Winwarp 2124 zugunsten poljarnischer Produkte verbieten wollte - nicht mit diesen Worten natürlich - da wurde auch dem letzten Erdling klar, daß das Auftauchen der Poljarner als feindlicher Akt zu sehen sei. Die Jahrtausende terranischer Geschichte zeigen deutlich, wer sich mit Mord und Metzelei, Partisan- und Bürgerkrieg am besten auskennt.

Natürlich gab es Schwierigkeiten. 'Playboy' wollte nicht auf die poljarnischen Mädchen als Centerfold verzichten und schlug sich auf die falsche Seite. Dann stellte QMS fest, daß sie die Majorität aller Anteile an Playboy hatten und schlugen Playboy wieder auf die richtige Seite. Daß QMS eigene Streitkräfte aufstellen konnte, hätte niemand gedacht - aber die historischen Firmen IBM und Mikrosoft hätten das im Prinzip ja auch schon gekonnt, da sie genug combatandenfähige Rechtsanwälte beschäftigten. Ebenso spielte eine entscheidenden Rolle in diesem Krieg, daß die Teenagerschaft eines ganzen Planeten geschlossen gegen die poljarnische Herrschaft aufstand - wenn man einmal eine poljarnische Version von 'Space Combat' oder 'The Merry Mutilator' gespielt hat, dann weiß man, warum. (Poljarnische Tamagotchis erfreuen sich hingegen geteilten Zuspruches, da sie konkrete Pflegefehler nie konkret üblnehmen und deshalb nicht umgebracht werden können.)

Die Weltregierung richtete Kriegsgefangenenlager ein (QMS gestattete ihr dieses). Eine immer größere Anzahl gefangengesetzter Poljarner wurden dort mit den Methoden konkreten Denkens vertraut gemacht. Schlichte Gemüter nannten sowas 'Gehirnwäsche', aber natürlich ist das zwangsweise Studium der 'Technischen Referenz zu Winwarp 2124' eine Tätigeit, die den Geist wesentlich mehr diszipliniert. Der Konsensus, daß es für die Poljarner heilsam sei, sich in irdischer konkreter Denkweise zu üben, war allgemein, und man sah darin auch nicht direkt eine Bestrafung, sondern eher eine Art Generalprävention. Außerdem sah man schnell ein, daß man auf die Poljarner nicht verzichten konnte, weil sonst niemand ihre Fusionsreaktoren verstand - die Energiekonzerne mußten aus diesem Grunde sich auch entscheiden, ob sie jeweils einen Poljarner in der Vorstand holten oder einem der schon vorhandenen Vorstandsmitglieder Denkverbot (jur.: Merkbefreiung) auferlegten. Seit der Zeit ist für Führungskräfte Alzheimer ganz offiziell keine Krankheit mehr, sondern eine Berufsbezeichnung.

Die große historische Auseinandersetzung zwischen Poljarnern und Erdmenschen erforderte viele Opfer, war aber bei weitem nicht so schlimm, wie man sich das früher bei dem Begriff 'instellarer Krieg' vorgestellt hätte. Es war eine Auseinandersetzung der Denkwelten, die so verschieden waren, daß nicht einmal über die Existenz einer solchen Auseinandersetzung Einigkeit herrschen konnte. Sie ging somit weit über das hinaus, was frühere Zeiten als 'Religionskrieg' bezeichnet hatten. Ebensowenig war man sich klar darüber, wer in diesem historischen Prozess Sieger geblieben war.

Das heißt, letzteres vielleicht doch: QMS gab das neue Winwarp 2125 heraus - die alten Fehlfunktionen sorgfältig mit den neuen poljarnischen Modulen kombiniert. Damit war dieses Betriebssystem in seinen Möglichkeiten ungeheuer erweitert worden - Grund genug für eine ordentliche Preisrevision. Dieses in Kombination mit dem erweiterten Kundenstamm der Firma QMS (die poljarnischen Kolonien) gaben der QMS den notwendigen Wachstumsimpuls, den sie nach jahrhundertlanger ununterbrochener Expansion ganz dringend brauchte.

Was werden Sie jetzt schreiben? Für welches Blatt schreiben Sie überhaupt? - Ah, das. War mal richtig selbstständig, bevor QMS die Anteile erwarb. Aber können Sie dann nicht die Geschichte der Poljar- Expedition aus dem Vorwort des Winwarp 2125 Manuals abschreiben? Ist am sichersten für Ihren Arbeitsplatz! Mit ein paar positiven Bemerkungen über den Gründer der Firma funktioniert das schon - wie heißt er nur? - Sie wissen schon, der, der das fensterlnde BetriebsSystem seinerzeit erfunden hat - und den Computer und das elektrische Licht und das Loch in Camelia.


© 1995 .. 1999 Josella Simone Playton 1999-07-02 20:29:59 MESZ


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