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******** 087. Tag: Montag 95-11-13 ********

87.1 Der Weg in die Schattenwelt

Wie gestern wachen wir ohne unser Zutun um 2 Uhr auf und sind damit wieder mit dem 27-Stunden-Rhythmus synchronisiert, ohne daß wir direkt daraufhin gearbeitet hätten. Einen Moment lang habe ich die Idee, daß dieser unbekannte Synchronisationsmechanismus sogar noch wirksamer sein könnte als der Hell-Dunkel-Rhythmus auf der Erdoberfläche.

Chreich rekelt und streckt sich. Ich stehe schnell auf, bevor sie zuviel körperliche Nähe sucht.

"Wir müssen," sage ich beim Frühstücken, "baldmöglichst feststellen, ob dieses Wasser trinkbar ist. Schlecht riechen tut es ja nicht!"

"Ja, aber diese Farbe ..." sagt Irene angewidert.

"Muß nichts bedeuten. Anderes Problem. Viel schlimmer: Wir haben nur zwei Dynamolampen."

"Zwei was?" fragt Chreich. Ich muß das Wort schon vorher in ihrer Gegenwart benutzt haben, aber bis jetzt hatten wir keinen Anlaß, die Dynamolampen auszupacken. Ich hole meine raus und führe sie vor. Chreich ist verblüfft.

"Es ist nicht viel Licht. Aber besser als nichts, wenn man sich in vollkommener Dunkelheit bewegen muß. Wir sind damit heruntergekommen, in eure Welt, weißt du!"

Ich zeige ihr, wie man mit der Lampe umgehen muß. Dazu gebe ich ein paar Erklärungen, wie sie funktioniert - mißglückte Erklärungen. Nahezu bei jedem zweiten Wort stocke ich, weil ich auf Begriffe zurückgreifen muß, die Chreich nicht wissen kann. Ich fürchte, sie versteht nichts, höchstens, daß ich eine Art Magie mit Worten zu umschreiben versuche, die 'Elektrizität' heißt, mit den Geistern 'Elektromagnetische Induktion' und 'Energiesatz'. Ich gebe es auf und beschränke mich auf Hinweise zur praktischen Handhabung.

"Nicht zu fest drücken," sage ich, "das ist ein ganz feiner Mechanismus. Manchmal blockiert dieser Griff - dann DARF man keine Gewalt anwenden!"

Chreich leuchtet sich ins Gesicht, sieht den feinen Glühfaden der Glühbirne an, bringt die Lampe auf größte Helligkeit. "Es ist hell!" sagt sie.

"Du darfst nicht hineinsehen. Die Augen brauchen dann zu lange, um sich wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen. - Oben, in unserer Welt, wirst du Lampen sehen, die hell wie die Sonne sind."

"Hell wie die was?"

"Hell wie die Sonne. Unsere hellste Lichtquelle. Du wirst sie kennenlernen. Ihr Licht hält bei uns alles am Leben."

Chreich sieht mich ungläubig an, sagt aber nichts. Es ist auch jetzt nicht die Zeit, Vorlesungen über Astronomie und Photosynthese zu halten. Das würde sie genauso wenig verstehen, jedenfalls in der zur Verfügung stehenden Zeit. Wir müssen weiter.

Ein letzter Rundblick auf die Dämmerungsebene, ein letztes Rundhorchen. Nichts. Keine Verfolger. Wir werden nie erfahren, was sie gemacht haben - Osont's Leute, und die Granitbeißerinnen, die ihnen - vielleicht - folgten.

Ich stelle fest, daß Schuldgefühle wegen Osont's Hinrichtung bei mir nicht sehr ausgeprägt sind - weit weniger als bei anderen Gelegenheiten. Gewöhnung? Oder Wirkung der besseren Rechtfertigung? - Es ist aber auch nicht so, als ob ich einen Triumph spüre, weil Charmion's Tod vergolten worden ist. Triumph nicht einmal ansatzweise. Am ehesten das Gefühl, eine notwendige Rechnung beglichen zu haben oder eine notwendige schmutzige Arbeit erledigt zu haben und die ganze unangenehme Sache jetzt vergessen zu können.

Nachdem wir zusammengepackt und uns überzeugt haben, daß wir den Steinmann leicht wiederfinden können, wenn wir diesen Weg zurückkommen sollten - einige zusätzliche Steine waren noch nötig - machen wir uns auf den Weg, zuerst zum Bach, und dann bachaufwärts. Es ist 3 Uhr, und die Marschrichtung ist ungefähr Nordwest.

Wir kommen rasch vorwärts. Ebenso rasch nimmt die Lichtstärke weiter ab. Außer dem Bach gibt es nach wie vor keinen definierten Weg. Der Runterweg in die Welt der Granitbeißer war deutlicher. Immer wieder nagen jetzt die Zweifel. Aber das Wasser muß ja irgendwo herkommen. Und da es in den höheren Lagen der Welthöhle keinen merkbaren Stoffwechsel des Wassers mehr gibt, muß das Wasser von der Oberfläche kommen. Es ist die einzige Möglichkeit. Solange wir dem Wasserlauf folgen, sind wir nicht auf dem falschen Weg.

Was hatte Oom, der alte Mann am See auf Casabones, noch alles über die Braunen und die Salzigen Quellen gewußt? Welche Zusammenhänge gab es mit den Erbauern der Toten Städte? Oder hat er darüber gar nichts gesagt? Ich weiß nicht mehr. Zu lange her. Zuviel passiert, inzwischen.

Das Gewölbe nimmt in seinen Abmessungen rasch ab, insbesondere die Spannweite wird geringer. Die Steigung wird stellenweise so gering, daß das Licht von hinten den Boden nicht mehr erreicht. Wir müssen immer häufiger die Dynamolampen verwenden. Dabei müssen wir so leuchten, daß wir mit den beiden Lampen Licht vor unser aller Füße erzeugen. Nicht ganz einfach und dem schnellen Vorwärtskommen nicht eben förderlich.

Das hektische Schnarren der Dynamolampen übertönt sogar das Murmeln des Baches. Kaum merken wir, daß das Murmeln des Baches weiter abnimmt, weil sein Gefälle immer geringer wird. Wir sind gewissermaßen über eine Bodenwelle gegangen, die durch das zuerst stärker, dann weniger stark ansteigende Gelände gebildet wird. Dadurch gibt es keine direkte Sichtverbindung zum Eingang dieses Gewölbes an der Oberkante des Steilhanges mehr. Zudem hält das immer enger werdende Gewölbe immer mehr Licht ab. Als wir einmal alle beide Dynamolampen zum Stillstand kommen lassen, ist es völlig dunkel. Erst, nachdem wir eine Weile im Dunkeln gestanden haben, können wir einen grauen Schimmer in der Richtung, aus der wir gekommen sind, erkennen. - Wahrscheinlich ist es das letzte Mal, daß wir eine Spur von dem Licht dieser Welt wahrnehmen.

Jemand drängt sich im Dunkeln an mich. Es ist Chreich. Aber es ist kein Annäherungsversuch. Sie hat Angst. Die Dunkelheit wirkt auf sie ähnlich wie die Dunkelheit in Casabones auf Charmion. Sie kann ja nichts dafür.

"Nur ruhig," sage ich ihr, "bloße Abwesenheit von Licht ist keine Gefahr. Man muß nur überlegter vorgehen."

Nach einem Moment setze ich noch hinzu: "Jedes Wesen, daß uns hier Böses will, jeder andere Mensch hätte mit demselben Problem zu kämpfen."

Ich kann nicht erkennen, ob sie das beruhigt. Wir marschieren weiter.

Die Felsdecke ist nur noch etwa zwanzig Meter über uns, und der Durchmesser des Gewölbes dürfte etwa 50 Meter betragen. Wir marschieren also wieder in einem langen, leicht ansteigenden Tunnel.

Fast hätte ich es übersehen. Ein heller Gegenstand zur Linken, knapp außerhalb der Reichweite unserer Lampen. Vielleicht nur ein hellerer Stein, aber ich leuchte trotzdem hin.

87.2 Relikte

Es ist ein menschlicher Schädel.

"Da werfen wir mal einen Blick drauf!" sage ich.

"Muß das sein?" fragt Irene.

"Ja, das muß sein. Vielleicht finden wir noch etwas. Jetzt sind für uns alle Informationen von Wichtigkeit!"

Es sind nur ein paar Meter, die wir uns vom Bach entfernen müssen. Dann stehen wir direkt vor dem Schädel und können den Boden rundherum ableuchten.

Es ist nicht nur der Schädel. Es ist ein ganzes Skelett. Die Knochen liegen praktisch noch so im Zusammenhang, wie dieser menschliche Körper vor der Verwesung gelegen haben muß. Man hat sie vom Bach aus wegen einiger Steine dazwischen bloß nicht sehen können.

"Was sagst du dazu, Chreich? Wie lange ist der schon tot?" frage ich.

"Schwer zu sagen. Vollständig entfleischtes Skelett. Keine Kleidungsreste. Und bei dieser Trockenheit hier würde ich eher eine Eintrocknung der Leiche erwarten."

"Eine Mumifizierung?"

"Das Wort kenne ich nicht."

"Es heißt genau das. Eintrocknung einer Leiche ohne wesentliche Verwesung. Kann unter günstigen Umständen Jahrtausende überdauern."

"Herwig, mir ist unheimlich!" sagt Irene und drängt sich an mich, "Wollen wir nicht weiter?"

"Ja, wir wollen weiter. Liegt hier irgendwo noch etwas von Interesse rum? Kleidungsreste, Werkzeuge, Waffen? Kann doch nicht alles vergammeln! Niemand geht hierher ohne irgendwelche Hilfsmittel!"

Wir finden nichts. Chreich deutet auf den Bach:

"Vielleicht führt dieser Bach manchmal mehr Wasser als jetzt!"

"Das kann sein," sage ich, "ja, das kann sein. Ich glaube, mir wurde so etwas erzählt. Plötzliche Wasserschwemme aus diesen Quellen. Da kann natürlich jemand, der schon tot ist, von seinem Besitz getrennt worden sein. - Mmh. Vielleicht finden wir später noch etwas."

Ganz überzeugend kommt mir meine eigene Erklärung aber nicht vor, weil das Skelett sehr hoch über dem Wasserspiegel des Bächleins liegt. Fast einen Meter. Da muß schon eine immense Menge Wasser geflossen sein.

Ein kurzer Blick auf Höhenmesser und Uhr: 3400 Meter unter NN, und es ist 6 Uhr.

Wir gehen weiter. Dabei leuchte ich öfter kurz nach rechts und links. Falls es hier noch irgend etwas zu finden gibt, dann sollten wir das nicht übersehen. Auch, wenn es der schauerliche Anblick einer mumifizierten Leiche sein sollte. Gerade das wäre von Interesse, denn das würde sich um einen Menschen handeln, dessen Tod noch nicht solange her ist.

Jetzt wird die Steigung so gering, daß der Wasserlauf gelegentlich Badewannen-große Becken bildet, die wir durchwaten könnten, aber eigentlich immer umgehen, um keine nassen Füße zu bekommen. Wenigstens sind wir sicher, daß wir keine Höhe verlieren können, wenn wir diesem Wasserlauf folgen. Aber wir gewinnen jetzt auch sehr wenig davon. Und wenn wir jetzt das Licht ausmachen, dann kann keiner von uns auch nur einen entfernten Lichtschimmer mehr wahrnehmen. Ab und zu muß ich Chreich bei der Hand nehmen und diese drücken - jetzt ist sie es, die Ermutigung nötig hat. Ich würde vielleicht auch etwas mehr mit ihr und mit Irene reden, aber der unebene Weg erfordert alle Aufmerksamkeit.

87.3 Das Wassertor

Zwei Stunden später passiert es dann: Der Wasserlauf hört auf. In dem Höhlentunnel, der sich inzwischen auf eine Weite von 20 Metern und eine Höhe von etwa 12 Metern verengt hat, läuft der Wasserlauf aus einem großen Becken heraus, in das er nicht hineinläuft. Der weitere Verlauf dieses Höhlentunnels ist trocken!

"Wie kann das sein?" frage ich, "Wo kommt das Wasser her? Das sind doch etliche Liter in der Minute! - Dieser Teich muß einen Zulauf haben."

"Einlauf," sagt Irene und erinnert mich dadurch daran, daß ich versehentlich Deutsch gesprochen habe. Sie hat recht: Das ist unhöflich gegenüber Chreich. Sie hat aber nicht recht mit ihrem Korrekturvorschlag. "'Zulauf' klingt nach Publikumsverkehr oder Kinobesuch!" setzt sie hinzu.

"Und 'Einlauf' nach warmen Wasser in den Arsch. Nein, 'Zulauf' ist schon richtig. 'Einfluß' ist übrigens auch nicht das richtige Wort. - Ah, 'Zufluß' wäre am besten!"

Ich übersetze unsere wenigen Sätze für Chreich in die Xonchen-Sprache, die in diesem Fall ein eindeutigeres Wort anbietet. Deshalb kann ich ihr nicht restlos das sprachliche Problem klarmachen, und die geographische Besonderheit an diesem Platze hat sie schon von selbst bemerkt. Immerhin interessant, daß Irene sich über Wortwahl Gedanken macht. Sie langweilt sich, trotz der potentiell bedrohenden Situation. Nach drei Monaten hat sie sich schon dran gewöhnt, daß in dieser Welt die Situation immer potentiell bedrohend ist. Ein nachtdunkler Tunnel, das Skelett, das wir gefunden haben, jetzt die möglichen Orientierungsschwierigkeiten. Und sie denkt an sprachliche Details. Vielleicht ein gutes Zeichen.

Allerdings wird es mit Irene kaum soweit kommen wie mit einem früheren meiner Kollegen, mit dem man kaum inhaltlich über irgend etwas reden konnte, ohne in eine Diskussion über sprachliche Formalia abzugleiten. Wehe, man hatte in seiner Gegenwart einen Konjunktiv falsch formuliert - dann versank das eigentliche Thema rasch vorübergehend in der Versenkung, bis der korrekte Satzbau ermittelt worden war. In Irene's Gegenwart kann man normalerweise sehr gut falsches Deutsch reden. Sie selbst kann das übrigens auch.

Wir leuchten den Rand des Beckens ab. Es ist, im Gegensatz zu den anderen, kleineren Becken und Pfützen, die wir bis jetzt auf dem Weg gesehen haben, so tief, daß man den Boden nicht sieht, und es reicht an die linke Wand. Das ist die Nordwand des Tunnels, da wir inzwischen nach Westen marschieren, wie ich feststelle. Die Form des Beckens ist entfernt quadratisch, mit abgerundeten Ecken, und die Kantenlänge beträgt 12 Meter, so daß etwas mehr als die Hälfte des Tunnelbodens an dieser Stelle durch das Becken eingenommen werden.

Die Tiefe ist im Moment 3300 Meter. Das ist wieder unendlich viel, wenn man nicht weiß, wo es weitergeht.

"Also füllen wir nochmal unsere Wasserflaschen und gehen weiter?" fragt Irene.

"Ich weiß nicht. Ich glaube, man sollte sich dauernd am Wasserlauf halten. Aber es hat ja niemand, den ich befragt habe, etwas genaues gewußt."

"Das geht ja nun nicht mehr. Wahrscheinlich eine unterirdische Wasserader, die in diesem Tunnel zutage tritt. Wir können ihr nicht mehr folgen!"

Ich leuchte die rechte Höhlenwand direkt über der Wasserlinie ab. Es sieht so aus, als ob der Fels über eine Strecke von 10 bis 12 Metern steil in das Becken abfällt. Das übliche Profil dieses Tunnels würde aber erwarten lassen, daß praktisch direkt unter der Wasseroberfläche der Boden des Tunnels sein sollte, weil er an den Tunnelrändern höher ist als in der Mitte, wo bis jetzt der Bach geflossen ist.

"Da kommt das Wasser irgendwo her." sagt Chreich und deutet auf die Wand. Es klingt, als ob sie sich sicher ist.

"Aber das nützt uns nichts!"

"Leuchte mal dahin!" sagt Chreich und deutet auf den Beckenrand zu unserer Rechten. Ich tue ihr den Gefallen. Jetzt, wo sie mich drauf hinweist, sehe ich es auch: Einige der Felsbrocken, die in der Nähe des Beckenrandes und weiter in der Richtung, aus der wir gekommen sind, liegen, sind entfernt quaderförmig und von gleicher Größe. Wenn man von der Annahme ausgeht, daß diese Felsbrocken aus besser und genauer geformten Quadern entstanden sind, und daß ihnen nachher durch mechanische Einwirkungen Ecken und Kanten abgeschlagen worden sind, so daß die meisten eine nahezu völlig unregelmäßige Form haben, dann muß die Größe der Originalquader etwa zwei mal drei mal fünf Dezimeter betragen haben. Andere legen eine Größe von 15 mal 30 mal 60 Zentimetern nahe. Aber in diesem Größenbereich liegen sie alle. In der Reichweite meiner Lampe zähle ich elf Felsbrocken, die einmal Quader gewesen sein könnten.

"Was sagst du dazu, Irene?" frage ich, "Chreich ist es zuerst aufgefallen. Fällt es dir auch auf?"

Irene fällt es nicht auf. Sie sagt jedenfalls, sie wäre von selbst nicht draufgekommen. Dann aber dreht Chreich einen dieser Brocken um, und es wird eine Kante sichtbar, die zwar nur wenige Zentimeter lang verfolgbar ist, die aber genau rechtwinklig aufeinanderstoßende Flächenstücke voneinander trennt.

"Die Erbauer der Toten Städte!" sage ich, "Das ist jetzt das erste, was wir von ihnen sehen!"

"Die müßten aber schwer gewesen sein!" wirft Irene ein.

"So schwer nicht. Laß mal nachrechnen: Dichte zwei bis drei Kilo pro Liter, zwei mal drei mal fünf Liter sind 30 Liter, also 60 bis 90 Kilogramm. Zu schwer, um eben mal so hopp hopp daraus ein Mäuerchen zu bauen. Aber wenn man wirklich etwas auf Dauer machen will und über organisierte Arbeitskräfte verfügt, dann kann man Steine dieser Größe durchaus zum Bau irgendwelcher Mauern verwenden. - Außerdem hast du es ja eben gesehen: Chreich hat den Stein problemlos bewegt! Die Granitbeißerinnen sind stärker als wir, und die Erbauer der Toten Städte waren es vielleicht auch."

"Du mit deiner Logik weißt immer eine Antwort!" sagt Irene.

"Ohne Logik können wir gleich einpacken!"

"Aber was sagt deine Logik darüber, daß es so wenige sind?" fragt Irene, "aus diesen paar Steinen kann man keine großen Gebäude bauen. Es müßten noch mehr davon rumliegen. Viel mehr!"

"Hat sie recht." sagt Chreich.

"Ja, hat sie recht. Vielleicht. Vielleicht sind aber die meisten Steine so abgeschliffen, daß man ihnen die alte Quaderform überhaupt nicht mehr ansieht! Diese ganze Höhle liegt doch voll von Geröll! Oder diese Steine sind sehr weit verteilt worden!"

"Bisher habe ich noch keine solchen Steine gesehen!"

"Hast du drauf geachtet?"

"Nein. Aber ich glaube, es wäre mir aufgefallen."

"Ich glaube, wir haben zu sehr darauf geachtet, wo wir unsere Füße hinsetzen!" stelle ich fest, "ganz selten haben wir mal rechts und links geleuchtet. Wir können an vollständig erhaltenen Mauern vorbeimarschiert sein, die wir überhaupt nicht angesehen haben! Und wir können an Bergen von Skeletten und Mumien vorbeimarschiert sein, aus dem gleichen Grund!"

"Herwig, red nicht davon!" beschwert sich Irene.

"Ich will ja nur klarmachen, wie wenig wir wissen! Wir können durch einen orientalischen, prächtigen Palast marschiert sein, durch den einen Seiteneingang, der als einziger zufällig zerstört war. Wir hätten nichts gemerkt. Sie dich doch um, wenn ich hier rumleuchte, wie weit wir sehen! Unsere Füße können wir ansehen, sonst nichts!"

Und ich leuchte um uns herum. Der Lichtfleck auf den ferneren Felswänden bestätigt meine Worte. Ein schwach leuchtender Irwisch. Weiter nichts. Ich habe auch nicht erwartet, noch irgend etwas in Sichtweite zu finden. Ich bin auch sicher, daß wir bisher nicht an gut erhaltenen Mauern vorbeimarschiert sind. Diese Mauersteine, wenn es solche sind, wurden vor immens langer Zeit zu einer Mauer gefügt. - Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir es nicht mit Zeiträumen zu tun haben, mit denen die Historiker umzugehen gewohnt sind, sondern mit geologischen Epochen.

Immer wieder läuft es auf die Frage hinaus: Wer waren die Erbauer der Toten Städte? Ich habe das Gefühl, daß, wenn wir das rauskriegten, dann wüßten wir nicht nur viel über die Welthöhle, sondern auch vieles, was die Geschichte des Planeten Erde betrifft und vieles über den Lauf der Evolution. - Hier, in der Welthöhle, stehen wir auf einem Schlüsseldokument der gesamten Weltgeschichte. Und wir können es nicht lesen.

"Es gibt noch eine Möglichkeit," sagt Chreich, "Es sind tatsächlich sehr wenige künstlich bearbeitete Blöcke dieser Art gewesen. Dann hat es mit diesem Teich zu tun. Seht doch: Sie liegen alle an dieser Seite. Nicht da, wo dieser Tunnel weitergeht."

Ich gehe ein paar Dutzend Meter weiter in unsere bisherige Marschrichtung und leuchte dabei in alle Richtungen.

"Sie hat recht!" rufe ich zurück.

"Herwig, geh nicht soweit weg!" beschwert sich Irene.

"Komm ja schon. Sind doch nur ein paar Meter!"

Wir betrachten die Lage der einzelnen Blöcke. Chreich bekommt vorübergehend meine Lampe. Nach einer Weile sagt sie:

"Es muß eine Einfassung dieses Teiches gewesen sein. Der ist mal höher aufgestaut worden als das jetzt der Fall ist."

"Woraus schließt du das?"

"Die Steine sind nicht alle gleich groß. Und in der Menge kommt es auch hin. Das war eine niedrige Mauer, die den Wasserspiegel etwa um soviel höher aufgestaut hat." Sie deutet eine Höhe von etwas weniger als einem halben Meter über der jetzigen Wasserfläche an.

"Und wie sollte diese Mauer zerstört worden sein? Der Druck eines stehenden Gewässers reicht dazu nicht aus. Nicht bei so schweren Steinen."

"Ich weiß es nicht." sagt Chreich und gibt mir die Lampe zurück, "Aber ich habe da so ein Gefühl, als ob dieser Teich künstlich ist."

"Einen Brunneneinfassung?"

"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer braucht hier eine Brunneneinfassung?"

"Alte Trinkwasseranlage?"

"Nein," sagt Chreich mit Bestimmtheit, "das ist es nicht."

Pause. Das Schnarren der Lampen. Meine Finger tun mir schon wieder weh. Irene tun die Finger auch weh - sie pumpt ihre Lampe so langsam, daß es nur ein Glühwürmchen in der Nacht ist.

"Es paßt nicht zusammen. Dieser Tunnel hier. Sieht immer gleich aus. Wird nur nach da, wo wir hergekommen sind, geräumiger. Aber sonst - wieso diese Quelle hier, mitten drin?" murmelt Chreich.

Sie hat recht. Mein laienhafter geologischer Instinkt würde auch vermuten, daß, wenn dieser Tunnel etwas mit diesem Bachlauf zu tun hat - wäre ja möglich, daß der Tunnel in geologischen Zeiträumen von dem Bach ausgewaschen wurde - daß dieser Tunnel in seiner ganzen Länge diesen Bach führt. Und das ist nicht der Fall. Ergo: Der Tunnel hat, in geologischer Hinsicht, mit diesem Bach nichts zu tun. - Jedenfalls nicht so, wie man sich das vorstellen würde.

Aber ich äußere das nicht laut, weil bisher alle meine Erwägungen über die Welthöhle, was ihre geologische und geophysikalische Erklärung betrifft, zusammenhangloses Stückwerk waren.

"Es sollte wie ein Brunnen aussehen." sagt Chreich nach einer ganzen Weile, "Wie eine Quelle. Eine Tarnung."

"Ja?"

"Ja. Es ist etwas anderes."

"Was denn?"

"Ein Eingang. Ein Durchgang. Leuchte mal hierher!"

Ich tue es. Chreich beginnt, sich auszuziehen.

"Was hast du vor?"

"Ich will nicht, daß diese ..."

"Wir sagen kurz 'Klamotten' dazu. Kleidung. Hose und Pullover."

"Ich will nicht, daß diese Klamotten naß werden."

"Willst du da hinein?"

"Ja. Tauchen kann ich ganz gut."

"Du wirst nichts sehen!"

"Ihr könnt mir ins Wasser leuchten. Aber ich glaube, ich kann mich durchtasten."

"Durchtasten?"

"Umhertasten. Mal sehen."

Sie ist nackt. Ich fürchte, daß dieses Wasser ihr sehr kalt vorkommen muß. Im Licht der Dynamolampe kann ich keine Gänsehaut bei ihr erkennen, aber sie hat sicher welche.

Ohne Umschweife steigt sie ins Wasser und beginnt sofort mit tiefem Durchatmen. Hyperventilation. Ein bißchen mehr Sauerstoff im Blute ansammeln. Bringt noch ein paar Sekunden. Dabei steigt sie immer tiefer in das Becken, und wir erkennen, daß die Uferböschung mindestens 45 Grad in die Tiefe geht.

Dann verschwindet Chreich nach einem letzten tiefen Atemzug unter der Wasseroberfläche.

Sie taucht tief, und in dem trüben Wasser kann unser Licht ihr nicht folgen. Die Zeit vergeht. Ich fange an, zu zählen. Dabei erinnere ich mich sofort daran, daß ich, als das letzte Mal so gezählt wurde, Osont umgebracht habe.

"Sechzig," sage ich nach einer Weile, "für mich wäre schon Schluß."

"Ein paar Minuten wird sie wohl schaffen."

"Ja, ein paar. Aber wie viele?"

Die Wellen auf der Wasseroberfläche laufen sich an der Böschung tot. Die Wasseroberfläche wird zusehends glatter. Wir können keine Bewegung in der Tiefe erkennen.

Bei 120 angekommen überlege ich mir, ob ich anfangen sollte, mich auszuziehen, um hinterherzutauchen. Andererseits schätze ich eine Granitbeißerin in diesem Punkte hoch ein. Wie Charmion damals diesen Riesenfischsaurier unter Wasser erledigt hat! Wenn Chreich nur ein Echo dieser Fähigkeiten hat, dann kann sie vier Minuten unter Wasser bleiben. Und wenn sie in Schwierigkeiten ist, dann kann ich ihr wohl nicht helfen.

Die Wasseroberfläche ist völlig reglos. Keine Bewegung, nicht einmal aufsteigende Luftblasen, wie man sie beim Tauchen gelegentlich abläßt. Was, wenn sie irgendwie festgeklemmt ist? Wie wäre das überhaupt möglich?

180. Ich pumpe meine Dynamolampe so hell, wie es überhaupt nur möglich ist, und halte den Reflektor direkt über die Wasseroberfläche. "Du auch," sage ich, "Sie muß wissen, wo oben ist! - Und laß sie nicht reinfallen!"

"Für wen hältst du mich?" sagt Irene.

240. Es müßte jetzt für Chreich unangenehm werden.

Wird es vielleicht auch. Aber erst, als ich bei 270 angekommen bin, tauchen Luftblasen auf, erst wenige, dann mehr. Dann bewegt sich eine blasse Form unter Wasser und wächst schnell zur Wasseroberfläche.

Wie ein auftauchender Wal durchstößt Chreich die Wasseroberfläche, prustet, fällt zurück, schwimmt auf uns zu. Ich bin mit dem Zählen bei 282 angekommen.

"Und?" frage ich.

"Laß sie doch erst einmal Luft holen!" sagt Irene.

"Das ist unser Weg!" ruft Chreich, als sie wieder atmen kann, "Da, unter der Wand, ist ein Loch. Ein großes. Ein Höhlengang. Führt mit Treppenstufen in die Tiefe! Da brauchen wir bloß hinunterzugehen!"

"Aber das ist doch alles unter Wasser!" protestiert Irene, "Ich kann nicht solange tauchen!"

"Ja," pflichte ich bei, "wir sind doch keine Kiemenatmer!"

"Noch," sagt Chreich, "noch ist es unter Wasser. Laßt mich doch erst einmal Luft holen."

Nach einer Minute fängt sie an, Einzelheiten zu erzählen, ohne das Wasser zu verlassen. Sie hatte zunächst viel Zeit damit vertan, die Abmessungen dieses Beckens blind tauchend und tastend zu erforschen. Mehr als die Hälfte der Zeit war schon rum, als sie den Gang fand. Sie hat die Treppenstufen ertastet. Die sind noch, sagt sie, in einem erstaunlich guten Zustand. Und das interessanteste: Die Kanten dieser Treppenstufen sind als Wülste herausgearbeitet. Einige davon sind zwar schon abgebrochen, aber sie meint, daß der Zweck dieser Konstruktion klar ist:

"Diese Treppen," sagt sie, "sind dazu da, auch unter Wasser benutzt zu werden! Man kann sich an diesen Wülsten festhalten und sich an der Treppe entlangziehen. Es geht sehr schnell - wenn man es weiß, verliert man keine Zeit!"

"Das heißt, wir müssen da durch?" fragt Irene ängstlich. Mir ist auch unwohl bei dem Gedanken. Nicht nur wegen uns. Das sowieso. Aber wir sind auch darauf angewiesen, daß die Dynamolampen weiterhin funktionieren. Ich glaube nicht, daß wir diese erfolgreich unter Wasser transportieren können. Elektrische Feinmechanik und Wasser verträgt sich nicht. Ich überlege, ob wir in unseren Rucksäcken Plastiktüten oder etwas ähnliches haben, mit denen man eine wasserdichte Verpackung für die Lampen improvisieren kann.

"Ich glaube nicht," sagt Chreich, "ich glaube, wir legen diese Treppe trocken."

"Wir tun was?" frage ich verblüfft. Ebensogut hätte sie sagen können 'Wir nehmen den Fahrstuhl an die Erdoberfläche, das ist schneller.'

Chreich erklärt genauer. Dieses Becken hat eine Tiefe von etwas mehr als sechs Metern. An der tiefsten Stelle, unter der Felswand, befindet sich der Treppengang, der noch weiter abwärts führt. Seine Oberkante ist etwa vier Meter unter der Wasseroberfläche, und die Schwelle des Ganges und die ersten abwärts führenden Stufen liegen unter Steinen verborgen. Aber nach etwa 16 Stufen hört die Treppe wieder auf, und es schließt sich ein horizontaler Gang an. Den hat Chreich nicht mehr weiter erforscht. Interessant war für sie ein riesiger Fels, der gleich am Anfang des flachen Teiles dieses Ganges liegt und der nahezu den Weg versperrt. Sie hatte allerdings den Eindruck, daß der Gang ausgerechnet an der Stelle breiter ist, so als ob der Fels dahin gehört. Er ist jedenfalls nicht die Treppenstufen heruntergerollt - das hätte die Treppenstufen bei der Größe dieses Steines nachhaltig demoliert. Denn dieser Fels ist, nach der Größe, die Chreich beschreibt, mindestens einige Tonnen schwer. Sie hat ihn allerdings noch nicht ganz umtastet.

"Was" frage ich, "nützt uns ein Felsbrocken, der in zehn Meter Wassertiefe liegt und so schwer ist, daß wir ihn sowieso nicht bewegen können?"

"Ich glaube, man kann ihn bewegen," sagt Chreich.

"Ja? Warum glaubst du das?"

"Weil man unter seiner Unterkante, wo er auf dem Boden aufliegt, deutlich einen Wasserstrom bemerkt. Wasser verschwindet dort, unter diesem Fels."

"Das ist interessant." sage ich.

"Nicht wahr?" mein Chreich, "Es sieht wie eine absichtliche Konstruktion aus. Es macht jedoch überhaupt keinen Sinn, wenn dieser Fels nicht bewegt werden kann. Er versperrt ja nicht einmal den Gang!"

"Vielleicht," sage ich, "ist er nur ein einziges Mal bewegt worden, um dort einen Abfluß für immer zu versperren - nach einem Abfluß sieht es ja aus, nachdem, was du sagst. Danach ist dieser Gang und der Treppenniedergang mit Wasser vollgelaufen, um sie für immer unpassierbar zu machen!"

"Macht doch auch keinen Sinn!" sagt Chreich, "Diese Anlage ist nur als Tarnung gut. Man kommt durch. Schwer natürlich, aber wenn die andere Seite so ähnlich aussieht wie diese hier, dann ist es möglich. Leicht möglich, wenn man den Weg kennt. Keine Rede von 'unpassierbar'!"

"Wenn man so schwimmen kann wie du!" stellt Irene fest.

"Was schlägst du also vor?" frage ich.

"Mir ist kalt," sagt Chreich, "ich geh noch einmal runter und sehe mir das Ding noch einmal genau an. So gut sollte mein Tastsinn sein. Dann komme ich rauf und ziehe mich wieder an. Wir überlegen dann zusammen, was zu tun ist."

Jetzt, wo sie es erwähnt, sehe ich, wie sie zittert. "Sei vorsichtig!" sage ich, aber sie hat schon wieder mit ihrer Hyperventilation angefangen. Nach einer halben Minute holt sie ein letztes Mal Luft und taucht wieder ab. Ich fange wieder an, zu zählen. Gleichzeitig halten Irene und ich wieder unsere Lampen dicht über die Wasseroberfläche. Außer dem Schnarren der Dynamos gibt es keine Geräusche.

Ich denke, so intensiv, wie wir uns mit diesem Teich beschäftigen, könnte sich jetzt irgend jemand hier anschleichen und schon wenige Meter von uns entfernt sein. In einem Film würde man dieses wieder als Steigerungsmittel für die Spannung verwenden. Vielleicht sind wir zu optimistisch. Ich habe damit gerechnet, Osont nie wieder zu sehen, und trotzdem ist er auf der Insel aufgetaucht, und dann war da noch das letzte Zusammentreffen auf der Dämmerungsebene. Beides unwahrscheinliche Vorgänge. Warum sollte also nicht jetzt jemand hier auftauchen, den wir nicht gebrauchen können? Wenn das passierte, dann dürften wir wohl gerechtfertigterweise einen Verfolgungswahn entwickeln.

Aber im Moment ist es soviel spannender, was Chreich da unten macht, daß alle anderen Möglichkeiten doch sehr theoretisch sind. Und, sage ich mir, wenn jemand hier auftaucht, dann könnte es neue Aspekte für unser Weiterkommen aufzeigen. Das wäre vielleicht ja gar nicht so unwillkommen.

120. Der Teich ist wieder frei von Wellen. Bald ist für Chreich Halbzeit. Wenn man da unten wirklich sehen könnte, dann könnte man sich in vier Minuten eine ganze Menge einprägen.

Einzelne Blasen steigen auf, drüben, an der Höhlenwand, wo unsere Lampen nicht hinleuchten. Mehr Blasen. Dann rauscht dort plötzlich ein Schwall Luft nach oben - viel mehr, als Chreich's Lungen fassen. Die Luft muß woanders herkommen.

Modriger Geruch füllt die Luft, und irgendwoher kommt ein gedämpftes, rülpsendes Geräusch, das an eine Toilettenspülung erinnert. Die aufsteigende Luft wühlt die ganze, eben noch so ruhige Wasseroberfläche auf. Dann aber bleiben die Blasen wieder weg. Was bleibt ist ein gedämpftes Rauschen, wie ein Wasserfall, den man durch eine Wand hindurch hört.

"Herwig! Das Wasser fällt! Sieh doch!" ruft Irene. Ich muß einen Moment hinsehen, um festzustellen, daß sie recht hat. Fast vergesse ich, zu zählen. Ich bin bei 180. Zwei Minuten kann Chreich noch. Mehr nicht. Wie schnell fällt das Wasser? Weniger als zwei Zentimeter pro Sekunde. Wenn ich mit der Tiefe des Steines, den Chreich beschrieben hat, richtig geschätzt habe, dann dauert es 500 Sekunden, bis dieser frei ist. Natürlich vorausgesetzt, daß sich die Sinkgeschwindigkeit der Wasserfläche nicht ändert.

Was könnte sie hindern, nach oben zu kommen? Ist ihr der Stein auf den Fuß gerollt? Ist sie eingeklemmt? Eine Gegenströmung, die sich da unten, in der Nähe dieses Absaugloches, viel stärker auswirkt als es hier den Anschein hat? Mal nachrechnen: etwa 140 Quadratmeter Teichfläche bei zwei Zentimeter pro Sekunde Sinkgeschwindigkeit. Das sind pro Sekunde zwei bis drei Kubikmeter Wasser. Das ist eine erstaunliche Menge. In einem beengten Querschnitt bewirkt das eine enorme Strömung. Dazu kommt das Wasser, das sich jenseits dieses Steines befindet. Ich fürchte, sie ist in Schwierigkeiten. Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon, wie sie an das Absaugloch gesaugt wurde und dort nicht mehr wegkommt. Dann kann ihr der Druck von zehn Meter Wassersäule alle Knochen brechen. Und gleichzeitig würde ihr Körper den Abfluß behindern.

Das Wasser fällt weiter, das Rauschen in der Tiefe wird energischer. Der normale Abfluß dieses Teiches ist jetzt unterbunden - dazu ist der Wasserspiegel schon zu tief.

500 Sekunden sind zuviel für Chreich. Ich bin jetzt bei 240. Eine Minute hat sie noch. Und ein bißchen Reserve. Aber die Geschwindigkeit, mit der das Wasser fällt, hat sich erhöht. 5 Zentimeter pro Sekunde. Und es wird schneller, je kleiner die Wasseroberfläche wird. Dummer Herwig, denke ich, bei so einem Teich kann man die Pyramidenformel ansetzen. Volumen ist ein Drittel von Tiefe mal Grundfläche. Da werden aus den 500 Sekunden bloß noch 160. Das sieht schon sehr viel moderater aus.

"Bleib hier oben!" sage ich zu Irene, als der Wasserspiegel vier Meter unterschreitet und unter der Felswand die Oberkante des Ganges, von dem Chreich gesprochen hat, sichtbar wird.

"Paß auf!"

"Kannst du Gift drauf nehmen!"

Der Teichhang ist glitschig. Trotzdem stehe ich mit ein paar Schritten am Wasser. Und das Wasser weicht weiter vor mir zurück.

"Nimm Chreich's Sachen auf! Paß auf, daß nichts aus den Taschen fällt! Vielleicht muß es gleich schnell gehen!" rufe ich zurück. Sechs Meter unter dem Teichrand. Ich kann die Schwelle des Ganges betreten. Das Wasser weicht so schnell vor mir zurück, daß ich Schritt für Schritt auf der Treppe absteigen kann.

Acht Meter. Oberkante des Ganges. Fauchend strömt Luft in die sich plötzlich öffnende Spalte zwischen der Gangdecke und der weiter sinkenden Wasseroberfläche. Ich versuche, hineinzuleuchten.

Etwa drei Meter von mir entfernt taucht Chreich's Gesicht auf. Sie schnappt nach Luft. Zwanzig Zentimeter Abstand von der Höhlendecke, dreißig, vierzig. Wie ein urweltliches Ungeheuer taucht in der Mitte des Ganges der Stein auf, von dem Chreich geredet hat.

"Bist du verletzt?" rufe ich.

"Nein. Aber ich komme hier nicht weg!"

"Gut, gut. Die Strömung muß ja gleich aufhören. Dann haben wir jede Menge Zeit ..."

Der Stein bewegt sich plötzlich. Wälzt sich auf mich zu. Ich bleibe wie erstarrt stehen, aber der Stein hört wieder auf, sich zu bewegen.

"Er macht es wieder zu!"

"Wer?"

"Na, der Stein!"

Nun geschieht sehr viel gleichzeitig. Das Rauschen des Wasserfalles, der irgendwo unter unseren Füßen im Felsen tobt, nimmt, nachdem der Stein wieder zur Ruhe gekommen ist, ab. Es gibt ein paar gedämpfte Rülpser. 80 Zentimeter sind zwischen der Decke des Ganges und der Wasserfläche. Mehr werden es nicht mehr. Chreich kann sich wieder bewegen, weil die Strömung urplötzlich weg ist. Und hinten, aus dem Gang, den wir entlang wollen, ist das Geräusch eines offenen Wasserfalles zu hören. Allerdings ist das sehr viel mehr Wasser als die paar Liter pro Minute, die der Bach geführt hat.

"Schnell!" sagt Chreich, "Wir müssen durch. Wo ist Irene?"

"Irene!" rufe ich zurück, "Hast du alle Sachen von Chreich? - Komm her! Und halt um Gottes Willen die Lampe aus dem Wasser!"

"Leuchte ihr!" schlägt Chreich vor. Das tue ich.

"Hör auf, mich zu blenden!" kommt es prompt von oben. Ich halte die Lampe tiefer.

"Hast du alles?"

"Ja."

"Wir müssen schnell hier durch. Das Wasser steigt schon wieder!"

"Wieso denn?"

"Weiß ich nicht. Beweg dich!"

Sekunden später stehen wir alle beide im Wasser. Es ist ein Meter und dreißig tief. Das geht mir bis ein paar Zentimeter unter die Brustwarzen, bei Irene sind es zehn Zentimeter drüber. Durch so tiefes Wasser kann man nicht sehr schnell gehen.

"Die Rucksäcke sind ganz im Wasser!" sagt Irene.

"Die werden wieder trocknen. Die Lampen sind wichtig! Paß auf!"

Wir brauchen zwei Minuten, um den etwa zwanzig Meter langen Gang bis zu seinem Ende zu gehen. Da zeigt sich dann in unserem Lichtkegeln eine Treppe, die nach links oben führt. Als wir näherkommen - inzwischen ist das Wasser wieder 1.40 Meter tief und geht Irene bereits bis zum Hals - sehe ich, daß der Sturzbach uns nicht auf der Treppe entgegenkommt, sondern in einer Rinne links daneben. Das ist gut. Sonst hätten wir auf der Treppe Schwierigkeiten gehabt. So sind dort nur einige Pfützen.

"Viel mehr Zeit hätten wir nicht mehr gehabt!" sage ich, als wir auf der Treppe stehen und ich zurückleuchte. Der Sturzbach zu unserer Linken wird den Gang bald wieder gefüllt haben.

Wie zu erwarten führt die Treppe etwa zehn oder elf Meter nach oben. Dann betreten wir eine trockene Steinfläche. Sie ist wirklich trocken - hier hat das Wasser zu keinem Moment gestanden. Dann wird es wohl auch nicht mehr soweit ansteigen. Wir können unsere Sachen ablegen.

"Das war knapp," sage ich, "Chreich, wieso hat der Stein den Abfluß wieder verschlossen?"

"Weil ich ihn nicht ganz aufgekriegt habe. Die Form dieses Steines ist so, daß er in der Position 'auf' unter Wasser stabil liegt, und über Wasser in der Position 'zu'. Wenn er jedoch unter Wasser auf das Loch gewälzt wird, dann läuft in diesem Loch das Wasser so schnell ab, daß ein ständiger Sog entsteht, der den Stein dann gerade in dieser Lage hält. Er ist also in Position 'zu'. obwohl er eigentlich anders liegen sollte. So stelle ich mir das jedenfalls vor."

"Er ist also wieder in die Position 'zu' gerollt, weil das Wasser sank?"

"Ja."

"Und warum so früh? Der Gang war doch noch halb voll Wasser?"

"Konstruktionsfehler," sagt Chreich, "Oder es lag an dem Geröll, das auf dem Boden des Ganges lag, so daß ich ihn nicht ganz in die Position 'auf' rollen konnte. - Kann ich meine Klamotten haben? Mir ist kalt!"

Irene gibt ihr das Päckchen, das sie unter dem Arm geklemmt hält: "Es tut mir leid. War alles unter Wasser. Alles naß. Ich zeige dir, wie man's auswringt."

"Es ist praktisch alles naß, was wir haben. Wir müssen eine Trocknungspause machen!" schlage ich vor.

"Und wenn das Wasser hierherkommt?" fragt Irene.

Ich leuchte auf den Boden: "Es war noch nie hier. Siehst du? Alles trocken. Diese Wasserflecken haben wir selbst gemacht!"

Während Chreich ihre nassen Klamotten anzieht, tritt die an den Rand der Steinfläche, auf der wir stehen: "Ich möchte mal wissen, woher dieser kräftige Bach kommt! Leuchte mal hier her!"

Ich tue ihr den Gefallen. Und mir, denn ich möchte es auch wissen. Es wird mir sehr schnell klar: Wir stehen am Ufer eines Teiches, der sehr viel größer ist als der Teich auf der anderen Seite.

"Dieser Teich ist künstlich!" sage ich nach einer Weile, "Genau wie die Steinplatte, auf der wir stehen! Sieh dir die Uferkante an! Sauber gemauert! Kaum Beschädigungen. Und da, der Überlauf, neben der Treppe. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es funktioniert!"

"Wie denn?"

"Durch diesen Überlauf kann sehr viel mehr Wasser durchlaufen als der Bach, der hier irgendwo in diesen Teich einmünden muß, transportiert. Jedenfalls eine ganze Weile lang, weil die Seefläche ziemlich groß ist. Der Gang und der Teich auf der anderen Seite werden also wieder rasch gefüllt. Wenn der Abflußstein in der Position 'zu' ist. Das geschieht gerade jetzt."

"Aha."

"Wenn der Abflußstein aber offen ist, dann wird dort soviel Wasser abgesaugt, daß der Gang fast trocken fällt, obwohl sofort von hier aus Wasser nachläuft. Es wird eben viel mehr Wasser abgesaugt als hier nachfließen kann."

"Das habe ich gemerkt!" sagt Chreich.

"Die Anlage ist raffiniert. Es ist eine Sache des Verhältnisses der verschiedenen Wasserflußmengen. Man kann sie nur unter Wasser auslösen, und sie gibt den Durchgang nur für eine kurze Zeit frei."

"Wenn ich das aber richtig verstehe, dann kann man das ja noch einmal machen, oder? Wenn dann aber in diesem Teich weniger Wasser ist, dann wird der Gang länger wasserfrei bleiben!"

"Im Prinzip ja. Es kann aber sein, daß die Absaugung erst nach längerer Zeit wieder funktioniert."

"Ja?"

"Ja. Das ist aber nur eine Vermutung. Das könnte man zum Beispiel so erreichen: Das Wasser, das unter dem Absaugstein verschwunden ist, hat einen Hohlraum aufgefüllt, der nur sehr langsam wieder entwässert wird. Wenn also jetzt jemand den Abflußstein wieder auf 'auf' stellt, dann wird plötzlich kein Wasser mehr angesaugt. Oder nicht mehr so viel, um genau zu sein."

"Dann aber, wenn man den Stein gleich wieder in die Position 'auf' rollen würde, bliebe der Stein in dieser Position liegen, weil das unter Wasser seine stabile Lage ist!"

"Genau. Man müßte den Stein wieder in die Position 'zu' rollen, damit der Saugraum trocken fällt und der Mechanismus wieder auslösebereit ist. Das muß man also wissen, um diese Anlage je wieder passierbar zu machen. - Wenn der Stein in der Position 'auf' bleibt, dann bleibt die Anlage unter Wasser."

"Raffiniert!"

"Genau meine Meinung. Aber teilweise nur eine Vermutung."

"Trotzdem. Wenn wir eben nicht rasch gehandelt hätten, dann säßen wir jetzt noch drüben."

"Vielleicht. Kümmern wir uns erst einmal um die Klamotten. Danach sehen wir uns genauer um. - Übrigens, noch etwas: Wenn man von dieser Seite kommt, dann kann man eventuell den Abfluß dieses Teiches dort blockieren und auf diese Weise den Durchgang permanent offen halten. - Wenn man den Mechanismus verstanden hat, sonst nicht."

"Das kann man doch auch, wenn man von der anderen Seite gekommen ist, so wie wir!"

"Ja. - Ja, du hast recht. Ich weiß nicht, ob das vorgesehen ist. Man braucht ja immerhin ein ziemlich großes Brett, oder etwas ähnliches, um das zu tun."

Nun müssen wir uns aber um die wichtigsten Dinge kümmern: Wir alle frieren, weil wir keinen trockenen Faden mehr am Leibe haben. Chreich leidet wahrscheinlich von uns noch am meisten, obwohl sie es meisterhaft verbirgt.

"Ausziehen und alles auspacken!" sage ich, "trocken kriegen wir wohl nicht alles, aber wir können auswringen und abwischen und uns selber abtrocknen. Der Platz ist günstig."

Der Platz ist auch günstig, weil der ebene Steinboden ermöglicht, die Inhalte der Rucksäcke und der Tragebeutel übersichtlich nebeneinander auszubreiten. Uns wird aber auch schnell klar, daß wir die Feuchtigkeit nicht so schnell vollständig loswerden können. Chreich kann mit ihren überlegenen Körperkräften unsere Klamotten und überhaupt alles, was aus Stoff ist, noch am besten auswringen, muß dabei aber sehr aufpassen, daß sie nichts zerreißt.

Immerhin erreichen wir auf diese Weise, daß wir wieder eine genaue Übersicht darüber bekommen, was wo verpackt ist. Kurz vor 10 Uhr sind wir wieder abmarschbereit. Die restliche Feuchtigkeit aus den Klamotten werden wir unterwegs abdampfen. Die beste und gesündeste Methode - wenn wir hier abwarten würden, bis alles trocken ist, dann würden wir uns noch eine Weile etwas zurechtzittern.

"Wie geht es überhaupt weiter?" frage ich, mehr rhetorisch, und leuchte die Umgebung ab, so gut es geht.

Wir befinden uns auf dem Boden einer Kluft von etwa zwanzig Metern Durchmesser und unbekannter Höhe, die parallel zu dem Tunnel, aus dem wir gekommen sind, verläuft, also von Ost nach West. An der Nordwand dieser Kluft grenzt der Teich, der den Durchgang inzwischen längst wieder mit Wasser gefüllt hat, direkt an die Felswand, die darüber steil in die Dunkelheit aufsteigt. Dieser Teich ist etwa bis zu zehn Meter breit und über zweihundert Meter lang. Er erstreckt sich von unserem Standort aus nach Westen.

Der Wasserspiegel dieses Teiches ist um etwa 40 Zentimeter gesunken, und sein einziger Zufluß ist an seinem westlichen Ende. Das gesamte Ufer dieses Teiches ist sauber ausgemauert und von einer ebenen, zwei bis drei Meter breiten Steinfläche gesäumt, deren Zweck wir zwar nicht erkennen können, die uns aber eben sehr gelegen kam.

Sowohl nach West als auch nach Ost setzt sich die Kluft in gleicher Breite fort, ist aber in beiden Richtungen durch massives Geröll praktisch unwegsam. Dem Bach, der aus Westen kommt, ist das natürlich egal, aber ich sehe im Moment nicht, wie man ihm mit vernünftigen Marschgeschwindigkeiten folgen könnte. Nach Osten könnte sich der Boden dieser Kluft leicht absenken, aber wir können es nicht herauskriegen, weil wir ihr auch nicht versuchsweise ein bißchen folgen können.

Die Südwand dieser Kluft ist nicht senkrecht, sondern nur sehr steil, so daß die Breite dieser Kluft nach oben zunimmt. Man kann sie an vielen Stellen wohl leidlich gut erklettern, aber es ist nicht zu sehen, wo man das denn nun am zweckmäßigsten tun sollte. Damit ist ein deutlich verfolgbarer Weg nicht gegeben, wenn man den unwegsamen Bachlauf selbst mal ignoriert.

"Hat jemand eine Idee?" frage ich.

"Nein." sagt Chreich. "Nicht direkt. Aber dieser aufwendig gesicherte Zugang, durch den wir gekommen sind, kann nur eines bedeutet: Es muß etwas hier in der Nähe sein, was diese aufwendige Sicherung rechtfertigt."

"Und was kann das sein?"

"Ich weiß es nicht." sagt sie. Natürlich weiß sie es. Wir wissen es alle.

Hier, irgendwo, befindet sich eine Tote Stadt.

87.4 Mauern aus der Vorzeit

Eine Tote Stadt, die im Gegensatz zu der, die wir vor drei Monaten gesehen haben, in ewiger Dunkelheit liegt.

"Warum war denn der Zugang zu der anderen Stadt nicht so gesichert?" fragt Irene. Sie denkt an dasselbe wie ich.

"Das wissen wir doch nicht. Wir sind doch nicht hingegangen, und von oben gesehen war der Fahrweg dahin dauernd unter den Wolken!"

"Stimmt auch wieder."

Mit kurzen Worten erläutere ich Chreich etwas über die andere Tote Stadt, die wir vor drei Monaten gesehen haben, damit sie weiß, wovon die Rede ist.

"Ich schlage vor," sagt Chreich, "wir gehen an das Ende des Teiches, wo der Bach hineinfließt. Da klettern wir rauf."

"Bäh." sagt Irene. Es hilft ihr aber nichts.

Der Bach, der in den Teich einläuft, führt ungefähr genauso viel Wasser wie der Wasserlauf drüben im Tunnel. Eher etwas mehr. Klar: Verdunstungsverluste in diesem Teich, und der Bodenablaß in dem überfluteten Gang, der ja, nach Chreich's Berichten, nicht ganz dicht ist.

"Seht euch diese Brocken an!" sage ich und leuchte ins Felsenmeer, "Da kommen wir nicht durch. Wie sollen wir da dem Bachlauf folgen können?"

"Deshalb klettern wir jetzt auch hier rauf!" sagt Chreich bestimmt. Sie will sich durch körperliche Arbeit warm machen und dabei ihre Sachen weiter trocknen. Vielleicht beeinflußt das ihre Entscheidung, den Hang hinaufzuklettern und nicht dem unwegsamen Bachlauf zu folgen, am wesentlichsten.

"Anseilen?" fragt Irene.

"Nein. So steil ist es nicht. Aber wir steigen immer nur abwechselnd." meint Chreich. Sie fängt ohne Umschweife damit an.

Sie hat recht. Die Schichtung des Gesteins bildet gute Griffe und Tritte, trotz der Steilheit dieses Hanges, und so gewinnen wir rasch an Höhe. Bald reichen unsere Lampen nicht mehr bis zum See hinunter, und auch das Rauschen des Baches wird immer schwächer. Das ist mir sehr unangenehm - der Bach ist unser Wegweiser. Mindestens genauso unangenehm ist es, daß der Hang an Steilheit zunimmt. Wenn es hier Licht gäbe, würde uns die Tiefe der schon erstiegenen Wand wahrscheinlich unangenehm deutlich werden.

Dann - wir haben vielleicht siebzig Meter Höhe gewonnen, so schwer man das abschätzen kann, wenn man nur einige wenige Meter weit sehen kann, höre ich von Chreich, die immer als erste über uns klettert, einen kurzen Ausruf der Verwunderung. Obwohl ich ihr leuchte, kann ich nicht erkennen, was sie hat. Erst, als ich selbst wieder steige und sie erreiche, sehe ich es:

Sie steht auf einem etwa 40 Zentimeter breiten Pfad, der diesen Hang schräg hinaufläuft. Seiner Steigung nach müßte dieser Pfad etwa vom Anfang des Sees herkommen, vom jetzt überfluteten Durchgang.

"Merkwürdig," sage ich, "wir hätten diesen Weg unten sehen müssen!"

Schnaufend erreicht Irene unseren Platz. Sie quittiert den Weg mit einem kurzen "Aah!"

"Kriege ich mal die Lampe? Ich möchte auch wissen, warum dieser Weg nicht bis unten geht." sagt Chreich. Sie rennt den Weg hinab. Immer schwächer sehen wir den tanzenden Lichtschein, den sie vor ihre Füße wirft.

Einen Moment lang lassen wir unsere Lampe ausgehen, weil ich wissen will, ob die dann steigende Empfindlichkeit unserer Augen es ermöglicht, daß wir im Lichte von Chreich's sich immer weiter entfernender Lampe doch etwas mehr von der Umgebung sehen. Das ist aber nicht der Fall - nicht bei diesen lichtschwachen Dynamolampen. Mit den lichtstarken Halogen-Taschenlampen wäre das etwas anderes. Denen wäre aber schon längst der Saft ausgegangen. Schon während unseres Abstieges vor mehr als 12 Wochen.

Irene wird ungeduldig und so nehmen wir unsere Lampe wieder in Betrieb, um die Dunkelheit aus unserer direkten Umgebung zu verscheuchen.

Als Chreich wenige Minuten später wieder bei uns ist - man kann sich sehr schnell auf ihm bewegen - weiß sie es:

"Er hört einfach auf - etwa acht Menschenlängen über dem Teich. Gerade, daß die Lampe da noch hinunterreicht."

"Absichtlich, um den Anfang des Weges schwer findbar zu machen?" frage ich und nehme die Lampe zurück.

"Nein. Das habe ich auch gedacht. Aber dafür gibt es keinen Hinweis. Vielleicht hat es für den Anfang des Weges einmal eine andere Konstruktion gegeben - ein Holzgerüst oder eine Rampe oder so etwas. Davon ist natürlich nichts mehr übriggeblieben. - Aber ich weiß es nicht. Die Verlängerung des Weges würde jedenfalls genau den Anfang des Sees treffen."

"Das heißt," denke ich laut nach, "daß andere Expeditionen, die so weit gekommen sein sollten wie wir, vielleicht direkt dem Bach gefolgt sind. Ob da eine Absicht hinter steckt?"

"Weiß ich nicht," sagt Chreich, "gehen wir weiter - vielleicht finden wir es heraus."

Der Weg ist so breit und sicher, daß wir nun wieder alle drei gleichzeitig gehen können: Chreich zuerst, dann ich, und dann Irene. Manchmal ist an der linken Seite sogar eine rudimentäre Stufe herausgearbeitet worden, so als wolle man den Geher vor einem versehentlichen Tritt in den Abgrund schützen. Ein unerhörter Luxus für die Welt der Granitbeißer, denke ich.

Der Hang selber nimmt weiter an Steilheit zu, und es dauert nicht lange, bis wir uns beglückwünschen können, daß es diesen Weg gibt. Wenn wir stehen bleiben und die Lampen auslaufen lassen, dann können wir aus der Tiefe das Gurgeln des Baches hören. Wir folgen ihm tatsächlich - nur sind wir im Momment vielleicht hundert Meter höher.

Dann plötzlich - wir gehen schon eine Weile dran entlang - fällt es mir auf: Die Felswand zu unserer Rechten hat Fugen!

"Seht euch das an!" sage ich, "Das ist eine Mauer!"

"Du spinnst!" sagt Irene, "sieh doch hin: Das, was du für Fugen hältst ist weder senkrecht noch waagerecht! Außerdem sieh dir die Größe der Steine an!"

Wir inspizieren die Wand genauer. Irene hat recht. Ich aber auch. Die Flächensegmente, die von den Fugen eingerahmt werden, haben alle eine ähnliche Größe, auch wenn sie unregelmäßig geformt sind. Und die Fugen haben alle eine Breite von 15 Millimeter bis zwei Zentimeter und sind 5 bis 10 Millimeter tief. Ich versuche, mit dem Finger etwas Material aus den Fugen herauszukratzen, aber es ist genauso fest wie der Fels selbst.

"Doch. Es ist eine Mauer. Sie haben große Steine verwendet und jeden einzelnen individuell bearbeitet. Sogar sehr genau bearbeitet. Und sie haben einen bemerkenswert dauerhaften Mörtel verwendet. Was sagst du, Chreich?"

"Ich glaube, ja. Es ist künstlich. Ich habe so etwas noch nie gesehen!"

"Das heißt aber doch, daß wir am Fuße einer großen, künstlichen Anlage entlanggehen! - Mensch, diese Steine müssen Tonnen wiegen!"

"Ja."

"Das heißt - wir stehen unter einer Toten Stadt."

Jetzt habe ich es ausgesprochen. Ein unangenehmer, natürlich eingebildeter Schauer umweht uns. So nahe waren wir noch nie an einer Toten Stadt. Und das ausgerechnet in dieser Dunkelheit - die Stadt vor drei Monaten lag tiefer, im vollen Licht der Leuchtenden Wolken, und wir sind ihr nicht näher als ein paar hundert Meter oder so gekommen. Hier aber kann sich jenseits der Reichweite unserer schwachen Lampen alles mögliche verbergen.

Es ist 11 Uhr, und laut Höhenmesser sind wir in einer Tiefe von 3150 Metern. So nahe an der Erdoberfläche, und dann dieser geheimnisvolle Ort!

"Was machen wir also?" fragt Irene. Ihre Stimme klingt nicht so, als ob sie sich Sorgen macht. Natürlich weiß ich, daß sich ihre Phantasie in Grenzen hält, besonders, wenn sie auch nur ein bißchen müde wird. Wenn mir der eigentlich abwegige Gedanke kommt, daß ja vielleicht in einer solchen Anlage noch irgendjemand hausen könnte, dann kommt ihr dieser Gedanke noch lange nicht. Ich müßte sie schon darauf hinweisen. Und dann bin ich wieder der professionelle Schwarzseher.

"Was sollen wir schon machen?" sage ich, "Wir gehen weiter. Wie bisher. Kein Entscheidungsbedarf, denn es gibt ja keine Abzweigung!"

Genau das tun wir. Die Art der Mauer verändert sich zunächst nicht, aber seitdem wir sie zu unserer Rechten haben, ist die Steigung des Pfades gering geworden, gelegentlich verlieren wir sogar wieder einige Höhenmeter.

Ab und zu bleiben wir stehen, um die Mauer über uns abzuleuchten. Aber das bringt keine neuen Erkenntnisse, denn soweit unsere Lampen hinaufreichen, verändert sich nichts.

So legen wir einige hundert Meter zurück. Das Rauschen links unter uns zeigt uns, daß wir dem Bach wieder näherkommen. Vielleicht sind es noch 50 Meter. Dafür ist der Hang jetzt sehr steil, viel zu steil, um ihn etwa hinunterzuklettern. Weil unser Licht immer noch nicht bis da unten reicht, können wir nicht feststellen, ob man dem Bach eventuell doch hätte folgen können.

Dann ist die Mauer plötzlich wieder verschwunden, und zu unserer Rechten ist wieder eine steile, natürliche Felswand. Ein definiertes Ende der Mauer hat es eigentlich nicht gegeben, da diese sowieso immer wieder gewachsenen Fels einsäumte.

"Es muß ein Fundament gewesen sein! Irgendsowas."

"Ich wette, du würdest es gerne herausfinden!" sagt Irene hinter mir. Präventivvorwurf.

"Sicher würde ich das. Aber wir wollen weiter. Außerdem gab es keine Gelegenheit. Kein Eingang, und die Mauer würde höchstens ein Freeclimber besteigen können. Das bin ich nicht."

"Ein was würde die Mauer besteigen können?" fragt Chreich.

"Ein Freeclimber. So nennt man bei uns die Leute, die die kleinsten Griffe ausnutzen können, um so eine Wand zu besteigen."

"Ich wäre hinaufgekommen!" sagt Chreich. Es klingt wie eine sachliche Feststellung, nicht wie Angabe. Natürlich - Granitbeißerinnen können das.

"Ohne Licht?" frage ich, "Oder mit einer Dynamolampe in der Hand?"

Sie sagt nichts. Wahrscheinlich denkt sie darüber nach.

Und ich denke darüber nach, an was wir wohl vorbeigekommen sein mögen. War es nur eine Mauer, die eine unsichere Stelle dieser Höhle abstützt? Oder sehen uns hinter unserem Nacken aus der Höhe zahllose leere Fensterhöhlen an, so wie in der anderen Toten Stadt? Liegt in den Gängen der Stadt der Staub der Jahrtausende, oder kann man noch die sterblichen Reste der Bewohner finden? Und sähen sie menschlich aus? Was würden wir vorfinden, wenn wir den - wahrscheinlich unmöglichen - Umweg riskieren würden, um kurz nachzusehen?

Die Idee, daß dort noch jemand oder etwas leben könnte erscheint mir zu weit hergeholt, und das, obwohl die Phantasie geneigt ist, die Dunkelheit mit seltsamen Wesen zu bevölkern. Aber man muß doch bloß nachdenken: Menschen oder andere Lebewesen, die solche Mauern bauen können, würden kaum dort leben können, ohne sich einem zufälligen Vorbeireisenden bemerkbar zu machen. Ein paarmal sind wir stehengeblieben und haben die Lampen ausgehen lassen. Und außer dem Geräusch des Baches war nichts zu hören, und zu sehen war schon gleich gar nichts.

Der Bach ist nun dicht unter uns. Unser Weg allerdings ist, seitdem wir die Mauer passiert haben, schlechter geworden, und er geht wieder vorwiegend bergauf. Schließlich, als wir zu unserer Linken wieder im Lichte unserer Lampen das Bachbett sehen können und dazwischen Stellen schillernder, bewegter Wasseroberfläche, liegen sogar Steine auf dem Weg. Gibt es hier auch gelegentlich plötzliche Wasserschwemmen? Heißt das, daß wir uns wieder auf eine Anlage zubewegen, ähnlich dem Unterwassergang, den wir passiert haben?

Jedenfalls können wir nicht mehr so schnell marschieren wie es noch unter der Mauer der Fall war. Und als dann der Bach unser Nieveau erreicht und sich plötzlich zu einem See weitet, wird der Weg fast ununterscheidbar von dem gerölligen Ufer dieses Sees.

Wir bleiben stehen. Es ist 14 Uhr, und wir sind in einer Tiefe von 3000 Meter.

"Was jetzt?" fragt Irene.

"Weiter. Wie bisher. Der Weg ist eben nicht mehr so besonders. Aber er ist noch zu erkennen, siehst du? Da, rechts an diesem Teich, geht es weiter."

"Ich bin müde!" sagt Irene.

"Ein bißchen müssen wir heute noch hinter uns bringen. Aber wir können eine Pause machen. Am besten hier - da rollt uns nichts ins Wasser."

Dieser See, der hier anfängt, scheint sich zu einer Breite von 10 bis 20 Metern aufzuweiten und ist an beiden Seiten von Geröllufer gesäumt. Weiter oben scheint das Geröllufer in steilere Wände überzugehen, aber das können wir nicht mehr erkennen. Und wie lang dieser See ist, können wir auch nicht sehen.

"Dieser Weg wurde sehr selten benutzt." sagt Chreich beim Essen.

"Warum?"

"Wegen der Steine auf dem Weg."

"Wieso? Bei einer plötzlichen Wasserschwemme? Da können doch ..." ich halte ein. Sie hat eigentlich recht. Eine plötzliche Wasserschwemme, die hier den See verlassen würde, müßte in diesem ja vorher den Wasserspiegel gewaltig angehoben haben. Und dazu braucht man, je nachdem, wie lang dieser See ist, immense Mengen Wasser. Mehr als das, was den Unterwassergang ausgefüllt hat. Viel mehr. Es fällt mir schwer, an Einrichtungen zu glauben, die, ähnlich dieser Unterwasserganganlage, solche Mengen von Wasser brauchen.

"Vielleicht hast du recht." sage ich.

"Sicher habe ich recht! Sieh hier! Leuchte mal!"

Ich sehe, was sie meint: an einigen Stellen auf den Steinen am Bachufer und am Seeufer gibt es Reste von einem grünen oder grauen Belag. Das ist aber höchstens bis zu einer Höhe von 25 Zentimetern über dem Wasserspiegel der Fall. Darüber sind die Steine zwar staubig, aber von diesen Belagresten kann man nichts mehr finden.

Der Unterschied zwischen den Steinen dicht über dem Wasserspiegel und den Steinen etwas höher ist zwar gering und, gerade bei dieser Beleuchtung, kaum merkbar, aber er ist real. An mehreren Stellen das gleiche Bild.

"Das heißt - gelegentlich steigt der Wasserspiegel schon an. Das sind eingetrocknete Reste von dem, was das Wasser braun macht. Und er steigt nur bis etwa hier an!"

"Genau!" sagt Chreich.

"Gut beobachtet! Mir wäre es nicht aufgefallen!"

"Immerhin heißt das, daß wir vielleicht doch mit noch so einer Anlage rechnen müssen!"

"Igitt!" sagt Irene. Die Aussicht auf ein neues Vollbad paßt ihr gar nicht. gerade jetzt, wo unsere Sachen anfangen, wieder trocken zu werden.

"Vielleicht ist es nicht so schlimm. Wir kennen jetzt ja ihre Gedankengänge - in diesen Dingen jedenfalls." besänftigt Chreich.

"Laß uns mal weiterdenken!" sage ich, "Nehmen wir mal an, eine solche Anlage setzt ganz plötzlich soviel Wasser wie die Unterwasserganganlage frei. Das sind, unter Brüdern, etwa eintausend Tonnen gewesen. Ganz ungefähr."

"Wieviel?"

Ich muß Chreich einen kurzen Exkurs über unsere Gewichtsmaße geben. Das hält meinen Gedankengang etwas auf - aber dieser ist ja einfach genug. Ich kann den roten Faden wiederfinden:

"Tausend Tonnen. Dem Gewicht nach soviel wie fünfzehntausend Menschen. Ungefähr. Das sind, bei einer Erhöhung des Wasserspiegels von 25 Zentimeter etwa 4000 Quadratmeter. Bei einer durchschnittlichen Breite des Sees von 10 bis 20 Meter würde das bedeuten, daß der See etwa 200 bis 400 Meter lang ist. Also so groß wie der See an der Unterwasserganganlage."

"Wäre ich nicht drauf gekommen!" sagt Irene.

"Vielleicht auch nicht richtig. Zuviele Unsicherheiten. Fließt wirklich alles Wasser gleichzeitig in diesen See? Wie hoch ist der Wellenschlag? Es gibt bestimmt ganz ordentliche Wellen, wenn sich soviel Wasser gleichzeitig in den See ergießt. Dann, um wieviel Wasser handelt es sich überhaupt? - Alles, was wir wissen ist, daß das Wasser hier nicht, zum Beispiel, um ganze fünf Meter oder mehr ansteigt, sondern nur um dieses bißchen. Und daß es sehr selten passiert."

"Und was hilft uns das?"

"Noch nichts."

Wir essen schweigend weiter - nicht zu schnell, damit wir nicht zu bald wieder losmarschieren müssen. Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Die meiste Zeit sind die Lampen aus. Wir haben sie so zwischen uns liegen, daß der- oder diejenige, die im Gepäck rumkramen will, sie leicht ergreifen und wieder zurücklegen kann. Ich habe es mir schwieriger vorgestellt, dieser Marsch mit nur zwei Lampen für drei Personen. Aber Chreich, die die meiste Zeit keine Lampe hat, kommt hervorragend mit dem Licht aus, was wir ihr vor die Füße werfen, oder was zufällig auf indirektem Wege ihren Weg beleuchtet. Wenn es mal für Sekunden für sie zu dunkel wird, hält sie mitten in der Bewegung an, was für mich, der meistens direkt hinter ihr geht, fast immer ein Anlaß ist, automatisch nach vorne zu leuchten. Dann setzt sie sich meistens so schnell in Bewegung, so daß ich nicht in sie hineinrenne.

Das Essen ist natürlich komplizierter, aber auch dort entwickelt sich schon Routine. Sonst wäre es gar nicht möglich, an etwas anderes zu denken als an die manuellen Feinheiten der Nahrungsaufnahme.

Ich stelle mir diese ganze Anlage, die wir jetzt entlanggehen und die wir ja noch nicht ganz kennen, als Ganzes vor, und vergleiche sie mit der Toten Stadt, die wir beim Heruntergehen gesehen haben. Zwei Pfade in die Welt der Granitbeißer, und an beiden befindet sich eine Tote Stadt - wenn die Mauer tatsächlich das Fundament einer solchen war. - Es erinnert mich ein bißchen an Wachburgen. Oder Wegelagererburgen? Wer zwischen der Erdoberfläche und der Welt der Granitbeißer wechselt, muß an einer Toten Stadt vorbei. Ist das Absicht?

Der Weg ist in beiden Fällen nervenaufreibend und gefährlich - für uns. Nicht aber für eine Granitbeißerin. Für die höchstens die Dunkelheit - beide Wege sind ja zum Teil im Dunklen. Dunkelheit war für Charmion unangenehmer als schwindelerregende Klettertouren, und bei Chreich ist es genauso. Osont's Leute sind auf der Dämmerungsebene umgekehrt, weil sie die zunehmende Dunkelheit genausowenig mochten. Im Moment ist es jedenfalls so, daß die Granitbeißerinnen von der Dunkelheit davon abgehalten werden, einen dieser beiden Wege zu benutzen. Und dadurch, daß diese Wege nicht bekannt sind, und weiterhin dadurch, daß sich keine Granitbeißerin vorstellen kann, wo diese Wege hinführen sollten. Denn in ihrem Weltbild ist die Welt allseitig von unendlich ausgedehntem Fels erfüllt.

Vielleicht war es einmal anders. Aber für einen Weg, der bloß dazu da ist, die Erdoberfläche mit der Welt der Granitbeißer zu verbinden, sind die Städte nicht notwendig. Das schmeckt nach Wachaufgaben.

Ja, und wie passen die Einrichtungen im Inneren des Berges Casabones, die ich gesehen habe, in dieses Bild? Das war zweifellos kein Weg zur Erdoberfläche, aber immerhin zu Oberfläche von Casabones. Was habe ich noch gehört über die Vorgeschichte von Casabones? Das war doch nicht immer eine Gefängnisinsel gewesen?

Ich weiß es nicht. Ich finde den Sinn nicht. Es paßt nicht zusammen. 'Schlüsseldokument der Weltgeschichte', so habe ich die Welthöhle für mich persönlich schon genannt. Ein absolut unlesbares Dokument.

"Wollen wir weiter?" fragt Chreich aus der Dunkelheit heraus. Wir sind inzwischen alle fertig mit dem Essen.

"Natürlich." sage ich.

87.5 Wendelturm

Es ist 15 Uhr, als wir wieder abmarschieren. Der Weg bleibt schlecht, wird aber nicht noch schlechter und folgt immer dem rechten Ufer des Sees, der nun tatsächlich eine Breite erreicht, so daß unsere Lampen das andere Ufer gerade nicht mehr erreichen können. Wenn wir allerdings rufen, dann kommt auch von dort ein Echo. Das können wir alle inzwischen auch recht gut: Anhand der Echos einiges über die Abmessungen der Höhlenabschnitte, in denen wir uns befinden, zu sagen.

Unser Marsch ist nicht lang: nach vielleicht 150 bis 200 Metern biegt der Weg nach links, auf das nur einen Meter entfernte Ufer zu, und bricht dort einfach ab.

"Da schau her," sage ich, "diese Wanderungen ist doch immer wieder für Überraschungen gut!" Ich leuchte auf den See hinaus. Fast erschrecken wir etwas, denn in nur 12 bis 15 Metern Entfernung taucht in dem müden Lichtkreis wieder Fels auf.

"Aah! Der See wird wieder schmaler!" sage ich.

"Nein." sagt Chreich bestimmt.

"Nein?" Ich leuchte hin und her. Sie hat recht. Der See ist nach wie vor breiter als die Reichweite unserer Lampen. Nur hier, genau gegenüber, schiebt sich ein zehn oder fünfzehn Meter breites Stück der Felswand auf uns zu. Chreich streckt die Hand aus, und ich gebe ihr die Lampe.

"Hört ihr's?" fragt Chreich. Wir horchen. Da ist wieder das schwache Geräusch fließenden Wassers. Aber es ist dumpf. Der Seeabfluß ist zu weit weg, der kann es nicht mehr sein, auch nicht über indirekte Schallwege, weil der Schall sich nach oben verflüchtigt - ein Hinweis auf die immer noch außerordentliche Höhe dieser Kluft. Also muß hier in der Nähe der Zufluß des Sees sein. Aber wo? Ich sehe nichts. Und das gurgelnde Geräusch kommt aus keiner definierten Richtung.

Chreich leuchtet den Boden vor ihren Füßen ab, dann das Geröll weiter weg. Dann zieht sie die Hose runter und hockt sich hin. Gerade will ich mich taktvoll abwenden, obwohl es Chreich überhaupt nicht stört, wenn ihr jemand beim Biseln zusieht, aber sie winkt mich zu sich:

"Sieh dir das an, Herwig! Da oben!"

"Was?"

"Der braune Belag!"

"Das wissen wir doch schon!"

"Aber siehst du nicht, wie hoch er über der Wasserfläche ist?"

Sie hat recht. Allerdings sind die schwachen Belagreste sehr schwer zu erkennen. Chreich muß ein gesundes Selbstvertrauen in ihre eigene Beobachtungsgabe haben. Und auf ihre Fähigkeit, verschiedene nützliche Dinge gleichzeitig zu machen. Sie steht auf und zieht ihre Hose hoch, nachdem sie mir die Lampe zurückgegeben hat.

"Hier kommt irgendwo das Wasser rein. Das hören wir. Und wenn es eine Wasserschwemme ist, dann gehen die Wellen hoch. Da hinten aber, wo wir diesen See erreicht haben, haben die Wellen sich dann schon totgelaufen!"

"Könnte sein!" sage ich, "Aber wo ist denn hier der Zufluß?"

Chreich deutet auf die nahe Felswand jenseits des Wassers: "Irgendwo dort. Leuchte mal höher!"

Das tue ich. Die Felswand macht einen runden Eindruck. Als ob es nicht ein Vorsprung wäre, sondern eine Säule. Warum eigentlich nicht?

Weiter oben wird die Beleuchtung, die ich mit der Lampe gerade noch erzielen kann, zu gering. Gerade noch habe ich den Eindruck, daß dort eine schräge, unregelmäßige Linie sich über die Wölbung der Felswand zieht, da wird es plötzlich dunkel.

"Scheiße," sage ich, "die Birne ist hin!"

"Die Birne?" fragt Chreich.

"Irene, wir haben doch die Reservebirnen noch?"

"Natürlich. Vorhin, beim Trocknen der Sachen, habe ich die Packung noch gesehen!"

"Und wir haben sie mitgenommen?"

"Für wen hältst du mich?"

"Ja, natürlich." Es ärgert mich, daß ich mir eingestehen muß, daß ich nicht mit der nötigen Intensität auf diese Packung geachtet habe. Diese sind für unser weiteres Fortkommen unbedingt nötig. Ich erinnere mich, daß ich schon keine Reservebirne mehr in der Lampe selbst habe, weil ich diese gleich gebraucht habe, als ich vor drei Monaten die ersten Schritte in der Höhle unternahm. Das war gleich am Anfang unseres Abenteuers, als die allererste Birne kaputt ging. Aber als mir die Irene dann mitteilte, daß sie diese Packung mit den fünf Reservebirnen eingepackt hatte, erschien mir das wie ein ungeheuer großer Vorrat. Was die Anzahl der Glühbirnen betraf, habe ich mir von da an keine Sorgen mehr gemacht.

Dabei haben wir jetzt nicht einmal das Problem, die Glühbirnen im Dunkeln suchen und austauschen zu müssen, weil Irene's Lampe noch funktioniert. Chreich sieht uns fasziniert über die Schultern, während wir an dieser für sie so fremdartigen Mechanik arbeiten.

"Ich tue bei mir gleich zwei rein!" entscheide ich, "dann haben wir die Restglühbirnen besser verteilt." Die ganze Zeit, während ich an meiner offenen Dynamolampe herumarbeite, bin ich sehr unruhig. Bloß nichts kaputt machen! Oben würde man so ein billiges Gerät wegwerfen, aber hier ist es jetzt unser bester Freund. Ich entschließe mich, beide Dynamolampen, wenn wir je wieder nach oben kommen sollten, auf einem Ehrenplatz in unserer Wohnung aufzubewahren, solange wir leben. Aber es liegt wohl nicht an diesem nicht ausgesprochenen Bestechungsversuch, daß meine Lampe nach dem Zusammenbauen wieder problemlos funktioniert.

"Jetzt wüßte ich gerne, ob in deiner Lampe eine Reservebirne ist!" sage ich, "aber bloß um nachzusehen werden wir sie nicht auseinandernehmen."

"Wo ist sie denn, wenn eine da ist?"

"Hier. Man kann den Reflektorteil nach vorne schieben und so abnehmen. Sie ist gleich hinter dem Reflektor. Ist ein bißchen Fummelei."

"Dann nehmen wir sie jetzt nicht auseinander." Irene hat gesprochen. Wir einigen uns darauf, daß sie von den drei übrigen Birnchen zwei kriegt und ich eine. Die Packungsreste lassen wir liegen - als umweltverschmutzender Wegweiser oder wegweisende Umweltverschmutzung. Vielleicht kommt in hundert Jahren wieder jemand hier vorbei - so lange müßte sich das mindestens halten. Natürlich sollte man Abfall in der Landschaft vermeiden, aber gerade hier sollte man auch an die Archäologen späterer Generationen denken.

Nachdem wir die Birnchen wieder verstaut haben, können wir uns wieder um den Weg kümmern.

"Ich glaube, ich werde in eurer Welt viele erstaunliche Dinge erfahren!" sagt Chreich.

"Sicher wirst du das. Wenn wir hinkommen. - Reut's dich? Daß du mit uns gekommen bist, meine ich."

"Hatte ich eine Wahl?"

"Vielleicht. Vielleicht nicht. - Nein, ich glaube nicht. Auch die Sachinor hätten - lassen wir das."

Von dem Band, das wir vorhin, als die Glühbirne kaputtging, da oben an der Felswölbung gesehen haben, sehen wir jetzt auch nicht mehr als vorher. Daß wir es aber überhaupt sehen, bei dem wenigen Licht, das dort oben noch ankommt, spricht eigentlich dafür, daß es eine deutliche Formation ist. Ich kann nur nicht erkennen, welche.

"Okay." sagt Chreich. Sie fängt an, sich auszuziehen.

"Wo hast du denn das Wort her? Und was machst du überhaupt?"

"Ihr verwendet es doch immer!"

Auf die zweite Frage antwortet sie nicht. Wir sehen ja, was sie vorhat: Schwimmend das Ufer gegenüber zu erkunden.

"Leuchtet mir!" sagt sie, als sie in das Wasser steigt.

Irene faßt meine Hand. "Keine Angst," sage ich, "alle Granitbeißerinnen können gut schwimmen. Und hier gibt es keine Ungeheuer im Wasser."

Noch während ich das sage, fällt mir dieses Tentakelmonster ein, das wir im Inneren von Casabones gesehen haben. Und war da nicht noch in einem Stolleneingang, ich glaube, am Fuße der Fahrkunst, ein Geräusch, das auf ein sich näherndes - Etwas - schließen ließ? Wie haben nie erfahren, was es war. Was macht mich denn so sicher, daß dieses Wasser gefahrlos zu durchschwimmen ist?

Chreich schwimmt lautlos. Sie hält auf die rechte Seite dieser Felswand zu und schwimmt daran vorbei, entfernt sich immer weiter von uns und verschwindet dann hinter der Kante. Wir können sie nicht mehr sehen.

Nach besten Kräften bemühen wir uns, die Stelle, wo sie verschwunden ist, auszuleuchten. Deshalb bemerke ich auch relativ spät aus den Augenwinkeln eine Bewegung an der linken Seite der Felswand. Eine angstkalte Sekunde lang denke ich an ein Wassermonster, das da auftaucht. Unsere Lampen rucken herum. Aber es ist nur Chreich, die dort wieder sichtbar wird.

"Es ist eine Säule! Sie ist drum herumgeschwommen!" sagt Irene. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Chreich schwimmt vor der Felssäule vorbei, um sogleich wieder dort zu verschwinden, wo sie vor einer Minute schon einmal verschwunden ist. Dabei grinst sie uns zu.

Diesmal dauert es länger. Irene drückt meine Hand - sie weiß so gut wie ich, wie wertvoll Chreich auch für unser Überleben ist. Nicht, daß wir uns nicht auch wegen ihrer selbst um sie Sorgen machten!

"Sie guckt sich jetzt die andere Seite genauer an!" vermute ich.

"Da wird sie wohl nicht sehr viel sehen." stellt Irene fest. Einmal glauben wir ein gedämpftes Platschen zu hören, das sich ein paarmal wiederholt.

Als Chreich diesmal wieder auftaucht, hält sie direkt auf uns zu. Sekunden später steht sie bereits triefend neben uns.

"Das ist unser Weg!" sagt sie.

"Tatsächlich?"

"Ja. Es ist eine Säule. Ziemlich genau rund. Drüben, genau auf der anderen Seite, fängt ein steiler Felsgang an, der sich wie eine Rille spiralig um die Säule schlingt. Außen ist eine Treppe mit Stufen, die so etwa einen Fuß breit sind. Weiter innen ist eine genauso steile Rille, tiefer als die Stufen, in der das Wasser hinunterläuft. Fast lautlos. Nur unten, wo es in den See einläuft, gurgelt es. Aber genau an der Stelle verschwindet es in einer Felsenöffnung, die wohl nur den Zweck hat, das Geräusch dieses Eintauchens abzudämpfen. Glaube ich. Und die Treppe ist so hoch aus dem Felsen ausgeschnitten, daß man auf ihr fast aufrecht stehen kann."

"Und das hast du alles in der Dunkelheit rausgefunden?"

"Ja, natürlich! Ich habe mich ein bißchen herumgetastet!"

"Mmh. Und du meinst, wir sollen dahin?"

"Das ist der Weg!" behauptet Chreich, "Seht doch her, hier, vor euren Füßen, wo dieser Weg so genau am Wasser plötzlich aufhört: Das war mal eine Anlegestelle!"

"Das ist eine Vermutung!"

"Natürlich ist das eine Vermutung!"

"Ja," sage ich, "wir hatten doch schon die Vermutung, daß die ganze Weganlage so gebaut ist, absichtlich so gebaut ist, daß man stellenweise nicht ganz einfach erkennen kann, wie es weitergeht! Wie etwa an der Unterwasserganganlage!"

"Das war aber auch die einzige Stelle! - Mich friert! Wir sollten sofort rüber, dann haben wir's hinter uns."

Vielleicht hat sie recht. Ich blicke das weglose Ufer entlang - eigentlich wäre es sinnvoll, wenigstens einen kurzen Blick auf das andere Ende des Sees zu werfen, bevor wir endgültige Entscheidungen treffen. Aber das ist mühsam, und wenn es so ist, wie Chreich es sagt, dann sollten wir wirklich schnell handeln. Auch mit dem Unterwassergang hat sie recht - die einzige Stelle, die so aussieht, als ob sie weiteres Folgen des Weges absichtlich erschweren sollte. An allen anderen Stellen waren Hindernisse natürlichen Ursprunges.

"Worauf wartet ihr?" Chreich ist ungeduldig.

"Wie machen wir's? Es soll möglichst wenig naß werden!"

"Es wird gar nichts naß werden. Wir können alles beim Schwimmen über den Köpfen halten."

"Also, ich weiß nicht, ob meine Schwimmkünste ..."

"Ich kann es!" sagt Chreich, "ich werde eben mehrmals schwimmen müssen. Einer von euch geht gleich zu Anfang mit, um mir drüben zu leuchten, und der andere bleibt bis ganz zum Schluß hier!"

"Meinst du?"

"Ja. Wir machen mindestens sechs Pakete: Drei - unsere Klamotten, und drei die Rucksäcke. Du gehst zuerst, Herwig. Das erste Paket, das ich dann bringen werde, sind deine Klamotten. Die kannst du gleich anziehen. Dann kommen die Rucksäcke. Da mußt du eben etwas aufpassen, daß dir keiner ins Wasser fällt - schließlich mußt du mir ja leuchten, wenn ich ankomme. Dann kommen meine und Irene's Klamotten. Ganz zum Schluß komme ich mit Irene und der zweiten Lampe. Dann machen wir Inventur und gehen weiter, wenn nichts fehlt."

"Und wenn etwas fehlt?"

"Gehen wir auch weiter. Es wird nichts fehlen. Los, wir müssen anfangen - es könnte sein, daß die Rucksäcke zu schwer sind, um sie die ganze Zeit über Wasser zu halten. Dann werden es noch mehr Pakete. - Los, zieh dich schon aus!"

Ich bin Chreich nicht böse, daß sie jetzt die Initiative übernommen hat. Sie friert im Moment am meisten und will es deshalb hinter sich bringen. Und sie übernimmt ja auch den schwersten Teil dieses Vorhabens.

Das Wasser ist nicht direkt kalt. Es ist lediglich der Kontrast zu den Temperaturen, an die wir drei Monate lang gewöhnt waren. Und Chreich ein ganzes Leben. Es könnten sogar noch mehr als 20 Grad sein. Jedenfalls, solange man sich nicht bewegt, ist keine Gefahr, ins unkontrollierte Kältezittern zu kommen. Es gelingt mir auch sehr gut, meine Lampe über Wasser zu halten und dabei noch zu betätigen.

Schnell sind wir hinter der Säule. Die Treppenrille, von der Chreich gesprochen hat, ist bei Licht problemlos zu finden - so problemlos, daß ich eigentlich nicht den Eindruck habe, daß hier versucht worden sei, diesen weiteren Anstieg vor demjenigen zu verbergen, der bis zu der Uferstelle gekommen ist, die wir vor wenigen Sekunden verlassen haben. Außerdem - wenn der Weg so plötzlich aufhört, dann muß das ja sowieso jedem zu denken geben.

Die Stufen sind genau definiert - auch unter Wasser. Überhaupt kein Problem, aus dem Wasser herauszusteigen. Chreich schwimmt sofort wieder zurück.

Ich muß schnell machen, um mit der Anatomie dieses Treppenganges vertraut zu werden, bis sie wiederkommt. Während ich um mich leuchte, befreie ich mich von einem Teil der Feuchtigkeit, indem ich mir mit der Handkante über alle Körperflächen fahre. Der Rest wird von der Kleidung aufgenommen und verdampft werden müssen.

Die Stufen sind etwa 30 Zentimeter breit, genauso hoch, aber nur 15 bis 18 Zentimeter tief. Damit ist die Treppe sehr steil. Die Rinne daneben hat eine Breite von ebenfalls 18 Zentimetern und ist soweit abgesenkt, daß sie überall tiefer ist als die Winkel, wo die benachbarten Treppenstufen aufeinander stoßen. Der Boden der Rinne ist völlig eben, so daß das Wasser in einem gleichmäßig dicken Film herunterläuft. Jenseits der Rinne ist die zwar natürlich aussehende, aber mit Sicherheit bearbeitete Felswand, die über meinem Kopf wieder in einen Überhang übergeht. Da sollte man sicher marschieren können. Mit dem Anziehen und dem Aufpacken gleich wird das allerdings schwieriger.

Chreich kommt schneller zurück als erwartet. Ich habe nicht viel Zeit zum Überlegen. T-Shirt unter einem Arm, Lampe in der Hand, mit der anderen Hand die Jeans aufrollen, dabei nicht das Gleichgewicht verlieren, hineinschlüpfen, T-Shirt überziehen, an der Rillenwand derweil abstützen, Kopf durch, und da kommt Chreich schon wieder. Ich übernehme den ersten Rucksack und setze ihn gleich auf. Er ist tatsächlich vollständig trocken geblieben.

Die nächsten Minuten werden etwas wackelig. Irene's Rucksack kann ich, nachdem Chreich ihn gebracht hat, etwas höher in der Treppe so zwischen Stufen und Felswand verkeilen, daß er weder naß wird noch herunterfallen kann. Chreich's Tragebeutel ist für dasselbe Verfahren nicht formstabil genug, obwohl er immer noch prall gefüllt ist. Zeitweise habe ich eine ganze Menge Dinge in der Hand.

Die letzte 'Fuhre'. Chreich hält ihre eigenen Klamotten über ihren Kopf und betätigt gleichzeitig noch die andere Lampe. Irene, die sie vor sich schwimmen läßt, besteigt vor ihr die Treppe. Ich ziehe mich eine weitere Stufe nach oben zurück, so daß nicht nur Irene, sondern auch gleich Chreich auf die Treppe steigen können. Keine Minute später sind beide leidlich abgetrocknet und angezogen und können ihr Gepäck wieder übernehmen. Wir könnten gleich losmarschieren, aber ich bestehe noch auf eine Vollständigkeitsüberprüfung sämtlicher Taschen. Alles Okay.

Nun haben wir zufällig unsere Marschordnung geändert, und da wir uns nur schlecht überholen können, bleiben wir dabei: Ich zuerst, dann Irene, dann Chreich. Auf geht's.

Schnell reichen unsere Lampen nicht mehr bis zur Wasserfläche unter uns. Was wir sehen können sind die Stufen auf denen wir gehen, die Wasserrinne links daneben und die Felswand links sowie die Decke der Treppenrille über uns. Ab und zu kommen die Wände der Kluft gerade eben in den Bereich unserer Lampen.

Ich rechne nach: Diese Säule hat einen ungefähren Durchmesser von 10 bis 13 Meter, das heißt, einen Umfang zwischen 30 und 40 Meter. Da jede Treppenstufe uns um 30 Zentimeter höher, aber nur um 15 bis 18 Zentimeter weiter bringt, gewinnen wir, wenn wir die Säule einmal umkreisen, eine Höhe von ungefähr 50 Metern. Einmal um die Säule herum heißt, daß zweimal eine Wand der Kluft in Sicht kommt. So können wir ein bißchen verfolgen, wie wir an Höhe gewinnen.

Die Rechnung geht aber nicht auf. Grad dreimal kommen die Kluftwände in Sicht, jedesmal sind sie weiter entfernt und schwerer zu erkennen. Dann ist gar nichts mehr zu sehen - diese Felssäule steht in einem nachtschwarzen Raum.

Ich spekuliere darüber nach, ob diese Säule etwas mit den Säulenformationen in der Granitbeißerwelt zu tun haben könnte, trotz des gewaltigen Größenunterschiedes. Da ich aber über die geologischen Ursachen beider Formationen nichts weiß, ist diese Spekulation müßig. Außerdem scheint die Felssäule, die wir spiralig umrunden, an Durchmesser zuzunehmen und, da wir krümmungsfreie Abschnitte durchsteigen, einen ovalen Querschnitt anzunehmen.

Wir müssen schon eine ganz ordentliche Höhe erreicht haben, als uns drastisch klargemacht wird, wie sauber dieser Gang aus dem Fels herausgearbeitet worden ist. Wir kommen nämlich an eine schadhafte Stelle: Drei Stufen sind ausgebrochen, gerade so, daß das Wasser in der Wasserrille noch nicht über den stehengebliebenen Rand treten kann.

Das wird kitzelig. In der Wasserrille kann man natürlich keinen Fuß aufsetzen, weil diese zu steil und zu glitschig ist. Es ist nur möglich, die Steinkanten zu verwenden, die von der Treppe übriggeblieben sind. Das ist eine Herausforderung für den Gleichgewichtssinn, denn diesen kleinen Abschnitt zu überwinden wäre auch direkt über dem Boden einer Turnhalle nicht einfach. Wir versuchen es überhaupt nur deshalb, weil wir sehen, daß die Treppe dahinter wieder in Ordnung ist.

Zuerst gehe ich über die Stelle rüber, und Chreich und Irene leuchten mir. Dann gibt Irene mir meine Lampe zurück und probiert es selbst. Sie schafft es, und ich bin stolz auf sie. Den Schweiß auf ihrer Stirn hat sie sich redlich verdient. Dann leuchten wir noch Chreich, die an dieser Stelle keine besonderen Schwierigkeiten hat. Natürlich.

Als wir normal weitermarschieren, fällt mir auf, daß wir an dieser Stelle kaum ein Wort geredet haben. Dabei war es vielleicht eine der gefährlichsten Stellen in den gesamten letzten drei Monaten. Aber wir alle haben gewußt, was zu tun notwendig ist, und überflüssiges Palaver vermieden. Drei routinierte Abenteurer. Eigentlich bin ich nicht nur stolz auf Irene, sondern auf uns alle. Wir brauchen uns nicht hinter den klassischen Abenteurerfiguren zu verstecken. Als Jim Hawkins zum Beispiel hätte jeder von uns das Schatzinselabenteuer genauso gemeistert wie dieser. Mit einem kleinen Unterschied: Jim Hawkins ist eine Romanfigur. Wir sind von Fleisch und Blut.

Dann kommen wieder zur Rechten unregelmäßige Felswände in Sicht, und ich habe den Eindruck, daß die Treppenrille überhaupt keiner Wandkrümmung mehr folgt. Die Wand, in der diese Rille eingelassen ist, ist immer noch senkrecht, und ich nehme an, daß wir bereits eine Höhe von vielleicht 300 Metern über dem See erreicht haben. Aber es wird zunehmend deutlicher, daß wir nicht mehr um eine Säule herum, sondern in der Wand einer zunehmend enger werdenden Kluft marschieren. Als ich einmal den Kompaß konsultiere, stelle ich fest, daß wir nach Süden marschieren, und daß diese Richtung sich kaum noch ändert. Das heißt also, daß die Kluft, in der wir jetzt marschieren, rechtwinklig zu der Kluft mit dem See und der Mauer verläuft.

Allmählich verliert man völlig die Übersicht über die Geometrie der Höhlenabschnitte, die man durchquert. Zu wenig Information aus dem beschränkten Gesichtskreis, den diese schwache Lampen ermöglichen. Das ist ja auch nicht so schlimm, denn es gibt diesen wohldefinierten Weg, dem wir folgen können. Und ob wir, wenn wir stolpern sollten und nach rechts über die Kante fallen, eine Fallstrecke von 300 Metern oder bloß von 50 Metern vor uns haben kann uns ziemlich gleichgültig sein.

Wir reden wenig, weil wir unseren Atem brauchen. Wegen der körperlichen Anstrengung, nicht wegen der Anspannung. Die fühlen wir nicht mehr, insbesondere auch deshalb, weil es keine zweite Wegesstelle mehr gibt, die durch Beschädigungen gefährlich wäre.

Die Feuchtigkeit ist inzwischen längst aus unseren Klamotten verdampft, und so haben wir eigentlich keinen Grund, uns zu beklagen. Aber wir sollten nun eigentlich einen Platz zum Schlafen suchen, weil das in dieser Rille nicht geht - einer müßte ständig wach bleiben und aufpassen, daß die beiden anderen nicht vom Weg runterrollen.

Unsere Kluft wird schmaler - vielleicht sechs Meter sind es noch bis zur Wand gegenüber. Die Tiefe der Treppenstufen nimmt zu, die Steigung der Treppe also ab. Dann geht der Rillengang plötzlich in einen horizontalen Gang über.

"Endlich!" murmelt Irene. Zum Übernachten ist dieser Gang aber immer noch nicht geeignet: 30 Zentimeter Weg, dann 30 Zentimeter Wasserrille - sie ist jetzt breiter und tiefer geworden, weil das Wasser langsamer fließt. Aber nach wie vor gähnt zur Rechten der Abgrund der Kluft. So geht es einige hundert Meter ohne nennenswerte Steigung weiter. Dann biegt der Gang und die Wasserrille plötzlich nach links in einen Tunnel ab.

"Jawohl! Das haben wir gebraucht!" sage ich. Nicht weit von dem Tunnelloch entfernt, vielleicht acht Meter, legen wir unsere Rucksäcke ab. "19 Uhr! Wo haben wir denn soviel Zeit verbraucht?"

"Wir sind ziemlich langsam aufgestiegen!" sagt Chreich.

"Finde ich nicht. Ich bin restlos fertig!" stellt Irene fest.

"Deshalb sollten wir auch hier unser Lager aufschlagen - hier kann man höchstens in die Wasserrille rollen!"

Irene sieht mit leichtem Mißmut den Tunnel an. Er ist asymmetrisch und hat eine Breite von 70 Zentimetern. Die Hälfte davon, in unserer Marschrichtung die rechte, wird vom Weg eingenommen, der Rest von dem Wasserkanal, der hier sehr langsam fließt.

"Eine unheimlich präzise gebaute Anlage!" stelle ich fest. Habe ich wahrscheinlich schon früher gesagt.

"Wo sollen denn hier diese Wassermengen entlangrauschen, von denen ihr geredet habt?" fragt Irene.

"Weiß ich nicht. Entweder hier, durch den ganzen Tunnelquerschnitt. Oder es gibt noch einen anderen Weg. Auf jeden Fall würde das Wasser den Teich da unten nicht brav über diese Rinne erreichen. Dazu wäre es viel zu viel. - Es muß irgendwo in der Nähe runterkommen, was weiß ich, wie ein Sturzbach über die Säule, oder frei fallend aus den oberen Regionen der Kluft."

"Mach dir keine Sorgen, Irene!" wirft auch Chreich ein, "Wenn das überhaupt passiert, dann ist das ein sehr seltener Vorgang. Wir müssen nicht damit rechnen, gerade jetzt, wenn wir hier schlafen, weggespült zu werden!"

"Ja, aber dieser ausgebaute Tunnel! Da, seht es euch an! Eine genau rechtwinklige Kante zwischen dem Weg und dem Wasserkanal!"

"Hast du Angst, daß jemand vorbeikommt und uns fragt, was wir in seinem Tunnel zu suchen haben?" frage ich, "Wenn das passierte - ich wage es kaum zu hoffen - dann können wir nach dem Weg fragen!"

"Manchmal habe ich das Gefühl, daß du mich nicht ernst nimmst!" sagt Irene vorwurfsvoll.

Oh, diese weibliche Logik! "Nicht ernst nehmen? Warum, meinst du, machen wir so einen Aufwand, um hier wieder rauszukommen? Ich finde, wir nehmen das alle sehr ernst."

"Streitet euch nicht!" funkt Chreich dazwischen, "Machen wir es uns lieber bequem, damit wir endlich etwas zu Essen kriegen!"

Irene holt Luft, um noch etwas zu sagen. Ich packe Kompaß und Höhenmesser aus, um damit das Thema zu wechseln.

"Marschrichtung ist jetzt etwa Südost. Und die Tiefe ist 2450 Meter. Irene, denk doch! Wir haben drei Viertel geschafft!"

"Noch sind wir nicht oben."

"Oh, was kannst du motivierend sein! Wirklich! Wenn ich diese Bemerkung gemacht hätte ..."

Später, nach dem Essen, bei dem wir kaum gesprochen haben - ich weiß immer noch nicht, ob sich bei Irene ein Krach anbahnt oder nicht - legen wir uns der Länge nach auf den Weg, Irene in die Mitte, Chreich zur Tunnelöffnung hin, ich in Marschrichtung. Nebeneinander zu liegen läßt dieser Tunnel nicht zu - dann müßte einer im Wasser liegen. Irene und ich liegen mit den Köpfen beieinander, Chreich entschließt sich, ihre Füße neben Irene's Füßen unterzubringen. Als wir unsere Glieder richtig hinpositioniert haben, wird es endlich still.

Kein Schnarren der Dynamolampen mehr. Völlige Stille, außer unseren Atemgeräuschen. Irene hat recht: Der außergewöhnlich gute Zustand dieses Tunnels läßt wirklich Besorgnis aufkommen: Erst waren wir der Meinung, daß die toten Städte Jahrtausende alt und seit ähnlichen Zeiträumen verlassen sind, jetzt sehen wir Anlagen, die höchstens ein Alter von Jahrzehnten oder bestenfalls Jahrhunderten erwarten lassen. Wir sind zwar auch beim Abstieg in die Granitbeißerwelt durch deutlich ausgebaute Tunnels gekommen. Aber dieser Tunnel hier besticht durch die Präzision der Ausformung seines geteilten Bodenprofils: Hier der Weg, gleich daneben das Wasser. Fließendes Wasser. Sollte das nicht Erosion geben? Und wenn nicht hier, dann doch wenigstens an der Säule, an der wir eben hinaufgeklettert sind? Oder ist laminar fließendes Wasser so wenig errosionsaktiv, daß das Jahrtausende gut geht? Oder sind die Gesteine so hart? Wie ist es mit der chemischen Aktivität des Wassers? Da allerdings könnte ich mir vorstellen, daß dieselbe sich, wenn es sie überhaupt gibt, bereits im Oberlauf dieses Wassers ausgetobt hat. Aber gewiß ist nichts. Wie immer.

Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich horche. Den Tunnel entlang, den Weg, den wir morgen noch gehen wollen, dort in die Kluft hinaus, von wo wir gekommen sind. Nicht zu sehr horchen, denke ich mir, sonst hörst du noch Stimmen, wo keine sind!

Und dann denke ich wieder an Wahrscheinlichkeitsbäume: Die Wahrscheinlichkeit, daß Osont's Leute umkehren und wieder auf die Dämmerungsebene vorrücken, nachdem sie gemerkt haben, daß jemand das Schwert genommen hat, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, daß sie sich zum Besteigen des Hanges jenseits der Dämmerungsebene entschließen und dort immer weitergehen, irgendwann multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, daß sie am Teich, der die Unterwasserganganlage tarnt, stehenbleiben und nicht weitergehen, die Wahrscheinlichkeit, daß sie herausfinden, wie man da hindurchkommt, trotz ihrer gelegentlich beobachteten Wasserscheu, die Wahrscheinlichkeit, daß sie den Weg nach oben finden, an der Mauer vorbei und zum See, die Wahrscheinlichkeit, daß sie rausfinden, daß es um die Säule herum weitergeht, die Treppenrille entlang, über die schadhafte Stelle und weiter bis zu uns. Lauter kleine Wahrscheinlichkeiten, miteinander multipliziert. Gibt fast Null. Eigentlich könnten sie uns nicht nachkommen.

Aber nach dieser Rechnung ist es auch extrem unwahrscheinlich, daß wir selbst hier angekommen sind. Wir sind aber hier! Wie beeinflußt das die Rechnung?

Ja, und zu dem Ganzen kommen noch die Wahrscheinlichkeiten, daß sich hier noch jemand rumtreiben könnte, an den wir noch überhaupt nicht gedacht haben. Diese Wahrscheinlichkeit ist allerdings additiv.

Ob ich einen akustischen Leuchtturm durch Schnarchen mache? Unten, vor dem Hintergrund des lebendigen Urwaldes und seiner zahllosen Stimmen, war Schnarchen nicht so schlimm und aus größerer Entfernung überhaupt nicht mehr wahrnehmbar. Hier aber drängt sich der Eindruck auf, daß sogar unser Flüstern kilometerweit durch die Höhlen hallt.

Vor dem Einschlafen erinnere ich mich ganz plötzlich und ohne Zusammenhang, daß Chreich die Irene vorhin mit ihrem Namen angeredet hat. Das hat sie doch noch nie getan, denn sonst käme mir das jetzt ja nicht seltsam vor, oder? Ist das ein Zeichen, daß sie zunehmend akzeptiert, daß sie mit uns in unsere Welt zurückkehren und wie wir ein Teil dieser Welt sein wird? - Ich versuche, darüber nachzudenken, um auf diese Weise die Gedanken an drohende Geheimnisse der Dunkelheit um uns herum zu verdrängen. Das gelingt mir aber nur teilweise.

Als ich einschlafe, bin ich nicht gerade in der ausgeglichensten Gemütsverfassung. Aber die Müdigkeit bringt den Schlaf dann doch. Trotzdem - meine Träume sind unruhig, und nachtschwarze Wesen durcheilen endlose Netze von unterirdischen Gängen, um uns zu finden. Und ich träume, daß sie unser bloßes Atemgeräusch noch an der anderen Seite der Welt wahrnehmen können.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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