IRIDIS


Josella Simone Playton


So viele Jahre. Jahre des Kämpfens. Karriere. So viele Orte. Keiner davon, der nicht unter uns gelitten hätte. Soviele Tote.

Gewiß, der Krieg. Im Krieg wird gestorben, bei uns und bei den anderen. Jetzt ist der Krieg vorbei. Wer gewonnen hat? Akademische Frage. Es sind zu wenige übriggeblieben, und davon fühlt sich niemand als Sieger.

PARSENQUEEN. Was war ich stolz, als ich dieses Schiff übernahm. Das Modernste der Flotte. Mit der besten Mannschaft, die je im Imperium ausgebildet worden war. Von denen nun keiner mehr - naja.

Jetzt bin ich bald da. IRIDIS. Zentrum des Universums. Für mich. Ein gelber Punkt in der Schwärze des Alls. Im weichen Lichte einer roten, langlebigen Sonne. R-Typ. Licht für noch hundert Milliarden Jahre. Sie hat kaum angefangen, zu scheinen. IRIDIS hat noch so viel Zeit.

Gelbe Wüsten. Gefrorene Meere. Wassereis, durchmischt mit Staub. Land und Meer unterscheiden sich kaum. Flache Ozeane, Relikt aus der Zeit, als sie noch flüssig waren, geheizt von der Hitze des Planeteninneren. Jetzt ist die Tektonik zur Ruhe gekommen. Keine Gebirge mehr, die noch aufgefaltet werden, und kaum Erosion, die die vorhandenen Gebirge wieder abträgt. Die Kante des Grabenbruches, wo ich Ruth zum letzten Male gesehen habe, ist sicher noch da. Genauso wie vor 262_000 Jahren.

Und Ruth, bist Du noch da? Hast Du die lange Zeit überlebt, dort, auf diesem Planeten, der so wenig und doch so erstaunlich wiederstandsfähiges Leben hervorgebracht hat? Erinnerst Du Dich noch an uns oder an mich? An unsere gemeinsame Zeit auf der Raumakademie?

Gewiß, es hat geheißen, die Cimbal-Gnus werden 80_000 Jahre alt, und mehr. Niemand wußte, warum. Und warum die Cimbal-Gnus die einzige höhere Lebensform auf IRIDIS waren. Was gab es noch? Einige Wüstenpflanzen, deren Stoffwechsel die strengen Fröste vertrug. Gräser, Moose, Flechten. Hier und da. Vereinzelt. Eine Handvoll Spezies, mehr nicht. Karge Oasen, getrennt durch riesige Wüstenabschnitte. Wo auf so vielen Planeten die Evolution ein glaubwürdiges Spektrum von Flora und Fauna erzeugt hatte, auf IRIDIS war das nicht der Fall. Ein Rätsel? Ein Zeichen? Daß der Kosmos immer noch einige Dinge enthält, die den Menschen immer noch verschlossen sind?

80_000 Jahre. Ein Leben zwischen 120 und 180 Minusgraden. Die Sonne, eine kleine, rote Scheibe am gelbgrünen Himmel, die niemals richtig wärmt, selbst, wenn sie im Zenit steht. 80_000 Jahre. Lange Märsche durch die Sand- und Kieswüsten, über die schroffen Überreste toter Gebirge. 80_000 Jahre kalter Wind und Flugsand. Dröhnende Sanddünen. Heulende Felsen. Hunderte von Kilometern bis zur nächsten Nahrungsaufnahme. Was für eine Lebensform. Was für ein Planet.

Nie hat jemand ein junges Gnu gesehen, eine Geburt, nie eines sterben. Zerbrechlich wirken sie. Der viel zu große Kopf, die runden Augen, hinter transparenten Schutzlamellen. Das ockergelbe Fell: die Farbe der Wüste. Die beiden großen Ohren, die sie unabhängig voneinander in jede Richtung drehen können, empfindlicher als alles, was der Mensch je an Mikrophonen hergestellt hat. Die seltsamen Laute, die sie, selten genug, von sich geben, und die ihnen ihren Namen gegeben haben.

Ihre Unauffälligkeit. Ihre Angepaßtheit an die Wüste. Wenn sie nur hundert Meter entfernt reglos stehen, dann übersieht man sie. Sie schienen ihr ganzes langes Leben auf den endlosen Streifzügen durch die Einsamkeit zu verbringen. In Grüppchen von höchstens zwanzig, manchmal aber auch nur von vier Tieren. Und auf dem ganzen Planeten gab es vielleicht neunzig solcher Mini-Herden. Bloß eintausend Tiere insgesamt?

Das Imperium hatte IRIDIS unter Naturschutz gestellt. In solchen Dingen spaßen sie nicht. Besonders, da es hier nichts zu holen gab, keine Bodenschätze, keine landwirtschaftlichen Erträge, nichts. Also Naturschutz. Auch mit der PARSENQUEEN hätte ich Schwierigkeiten, den Planeten anzufliegen, wenn es die Truppen des Imperiums noch gäbe.

Ruth, was hat die Existenz als Cimbal-Gnu Dir gebracht? Lebst, denkst und fühlst Du noch? Erinnerst Du Dich noch an mich? Erinnerst Du Dich noch an Deinen Unfall? An den Anflug in den Eingangstunnel der Nachschubbasis auf CHANGOR? Die Anflugleitung und der Schiffscomputer waren verschiedener Meinung. Der Tunnel war vielfach gewunden, und ein eingleitendes Raumschiff muß sehr präzise und schnell gesteuert werden. Keine Zeit, daß erst noch zwei Computer unter sich Prioritäten aushandeln müßen. Ein Programmfehler.

Es hat fast die ganze Basis zerrissen. Sie haben die Trümmer des Schiffes geborgen. Von Dir war nicht mehr viel übrig. Du warst tot, aber Dein Gehirn war noch völlig unversehrt. Zufall. So war es möglich, einen Gesamtabzug sämtlicher Synapsen zu erstellen. Eine Low-Lewel-Karte Deines eingefrorenen Bewußtseins. Bevor die Würmer alle Information auffressen. Bevor die Entropie Dich holt.

Wir haben Dich nicht um Erlaubnis gefragt, wie denn auch. Pro Forma wurde ich gefragt. Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß ich hätte ablehnen können. Außerdem wollte ich, daß Du lebst. Auch wenn in einer anderen körperlichen Manifestation.

Ich wußte schon damals, daß Du nie wieder eine menschliche Existenz annehmen können würdest. Die Struktur des menschlichen Geistes ist zusehr mit seinen Sinnesorganen und seinem Körper verzahnt. Deinen Geist Synapse für Synapse in einen anderen Humancortex einzuprägen wäre zwar möglich gewesen. Aber die Kartierung hätte niemals über die Sinnesorgane einen korrekten Anschluß an die Außenwelt herstellen können. Solche Experimente sind ja schon gemacht worden, mit den bekannten schauerlichen Resultaten.

Es war reiner Zufall, daß das Kriegsgeschehen zu jener Zeit sich in der Magellanschen Wolke konzentrierte. Andernfalls wäre IRIDIS nie entdeckt worden. Und die Cimbal-Gnus.

Das immerhin war schon bekannt: Die Cimbal-Gnus besaßen einen gigantischen Cortex. Etwa zehn mal soviele Neuronen und hundert mal soviele Synapsen wie ein Mensch. Trotzdem schienen sie keinen Intellekt entwickelt zu haben. Jedenfalls konnten wir nichts feststellen, was über das Maß eines sehr intelligenten Hundes hinausging.

Experimente mit Cimbal-Gnus waren schon damals verboten. Aber die Flotte hatte so ihre eigenen Vorstellungen, was sie durfte und was nicht. Hier bot sich die Gelegenheit, auf einen lebenden Cortex das synaptische Muster eines anderen zu übertragen. Platz genug war da, im Empfängercortex. Man nahm an, daß sich das Interface des Gast-Intellekts zur Außenwelt wie bei einem Embryo und einem Kind entwickeln konnte. Zeit genug war da, bei der Lebensspanne.

Zu der Zeit war schon bekannt, daß es unmöglich war, Cymbal-Gnus außerhalb von IRIDIS am Leben zu erhalten. Sie starben einfach, nach einigen Stunden an Bord eines Raumschiffes, egal, wie sehr die Klimatechniker sich bemühten, die Bedingungen auf der Oberfläche von IRIDIS an Bord nachzuahmen. Deshalb mußte das Gnu, das Dein Bewußtsein tragen sollte, wieder auf IRIDIS ausgesetzt werden.

Glaub mir, Ruth, ich hatte die Absicht, schon nach kurzer Zeit wiederzukehren. Aber Befehl ist Befehl. Und das Universum ist groß. Instellare Entfernungen sind SEine Quarantänebestimmungen, und die Lichtgeschwindigkeit ist die geltende Ausführungsbestimmung. Es verschlug mich in den Spiralarm, wo die legendäre ERDE gewesen sein soll.

ERDE. Was für ein Wort. Die ERDE war blau, sagt man. Leben von Pol zu Pol. Keine öde Wüste wie IRIDIS. Ich habe noch Filme von ERDE gesehen. Ruth, ich hätte Dir einen schöneren Platz gegönnt, Deine langen Tage zu verbringen. Jahrzehnte vergingen, der Krieg wogte zwischen den Sternen, trieb uns wie Staub von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Kameraden fielen, man erreichte rasch höhere Rangstufen. Im Krieg wird schnell befördert. Oder gefallen.

Ich machte das Karriere-Spiel mit, denn ich wußte, daß ich so rascher nach IRIDIS zurückkehren könnte. Was heißt rasch - die Jahre flossen langsam dahin, in dem täglichen Bemühen, am Leben zu bleiben, und die Gegenseite eben daran zu hindern. Instellare Konflikte ziehen sich in die Länge.

Ich glaube, ich bin alt geworden. Mein Haar ist weiß. Vielleicht erkennst Du mich nicht mehr, Ruth. In Friedenszeiten wäre ich längst im Ruhestand, nein, wir beide könnten zusammen irgendwo unsere Tage genießen, auf einen der schönen Planeten - wenn es solche noch gibt. Zuviele haben wir davon zu Staub geblasen, zum Ruhme des Imperiums.

Die militärische und politische Lage wurde unübersichtlich. Das Imperium zerfiel. Kolonien machten sich selbstständig. Aus dem großen Krieg wurden viele kleine. Und andere Kolonien wurden für immer ausgelöscht. Immer wieder.

Als meine gesamte Mannschaft an einer Mutation des XTSDS-Virus unheilbar erkrankte und innerhalb von Wochen starb, desertierte ich. Ein schönes Beispiel werde ich gegeben haben, ein Admiral, der abhaut! Aber es schien alles so sinnlos. Niemand, den ich jemals näher gekannt hatte, war noch am Leben. Einige wenige vielleicht noch. Aber wer sich erst hunderttausend Lichtjahre voneinander entfernt hat, und dann vielleicht noch Jahrzehntausende in der Zeit auseinandergedriftet ist, der hat wenig Hoffnung, sich je wieder zu finden. Gibt es doch heute noch versprengte Einheiten, die nicht wissen, daß der Krieg längst in Absurdität versandet ist. Die Struktur von Raum und Zeit sind nicht dazu geschaffen, den menschlichen Expansionsdrang und seine Agression zu unterstützen.

Kein schlechtes Gewissen, wegen der Desertation. Im Laufe des Krieges hatte ich mehrmals umlernen müßen, was die guten Gründe für unser Handeln betraf. Ich kann mich auf sechs verschiedene Arten hieb- und stichfest rechtfertigen, für alles, was wir getan haben. Nun machte ich mir meine eigene Rechtfertigung.

Ich hatte nur noch einen Focus. Dich. IRIDIS. Wegen der ungeheuren Entfernungen würden dann mehr als eine Viertelmillion Jahre vergangen sein. Aber vielleicht waren Cimbal-Gnus sogar in der Lage, so lange zu leben. Einige, vielleicht.

Auf diese Hoffnung setzte ich alles. Knapp unter der Lichtgeschwindigkeit legte ich die Strecke nach IRIDIS zurück. Nochmal ging fast ein Jahr Eigenzeit drauf. Die Energie war begrenzt. Ein ganzes Jahr Leere, draußen die verzerrten Sternenbilder, die Regenbogenfarben des Einstein-Ringes. Von Tag zu Tag fiel die Galaxis zurück. Die Leere in mir kam mit. Endlose Reisezeit. Am Ende des Tunnels die Hoffnung. IRIDIS. Du.

Es war nicht ganz leicht, IRIDIS zu finden. Die Sternenkarten dieser Gegend waren noch nie genau, und nach dieser langen Zeit haben sich alle Positionen verändert. Es gab Tage, da verzweifelte ich, weil nichts zusammen paßte. Der Navigationscomputer schmiß das Handtuch schon lange vorher - er ist nur dann wirklich gut, wenn er exakte Daten hat. Verschiebe jeden Stern um ein paar Lichtjahre, und er erkennt nichts wieder. Ohne meine jahrzehntelange Erfahrung und meinen navigatorischen Instinkt hätte ich IRIDIS nicht gefunden.

Aber nun bin ich da. Die gelbe Sichel vor mir im Raum. Ich gebe dem Navigationscomputer noch einmal eine Chance - er rechnet jetzt die Position der bekannten geographischen Merkmale aus. Das wenigstens gelingt ihm schnell. Es hat sich wenig verändert auf IRIDIS.

Wieder die Erinnerungen: Wir setzten Ruth aus. Wie zu erwarten war das Verhalten des Gnus wenig verändert. Ein scheues Tier, das sofort die Flucht ergriff. Es sah mich überhaupt nicht an. Lebte irgendwo hinter diesen großen Augen Ruth's Bewußtsein? Das Tier war so schnell weg, daß ich wie betäubt dastand. Ich wußte nicht, was ich erwartet hatte. Das jedenfalls nicht.

Unsere Drohne folgte unauffällig. Zielsicher erreichte das Gnu nach einigen Tagen eine Gruppe von Artgenossen. Nicht einmal die nächste: Das Tier hatte eine bestimmte Gruppe aufgesucht. Keine Sekunde schien es über die Marschrichtung im Zweifel zu sein. Danach unterschied sich sein Verhalten in nichts von dem seiner Artgenossen.

Vielleicht war das der Grund, weswegen die Natur die Cimbal-Cnus mit diesem Riesencortex ausgerüstet hatte: Instinktive Navigation auf dem ganzen Planeten. Eine komplexe Karte der Oberfläche von IRIDIS. War das der Grund, warum sie außerhalb von IRIDIS nicht leben konnten? Entwurzelt und getrennt von dem, womit ihr Geist optimal umgehen konnte? Umfaßte ihr Geist vielleicht viel mehr als das, was wir als unsere Kultur, als unser persönliches Wissen und unsere Erinnerungen betrachten? Schon rein mengenmäßig? Sind in Wirklichkeit wir diejenigen mit dem beschränkten Horizont, und nicht sie?

Tage später hatten wir IRIDIS verlassen. Mein letzter Blick auf die gelbe Scheibe war nicht unähnlich dem, den ich jetzt habe. Er brannte sich in die Erinnerung ein.

Hatte Ruth's Bewußtsein sich jetzt den Anschluß an die Sinnesorgane erkämpft? Oder war es im Cortex des Gnus langsam erloschen, ohne jede Verbindung mit der Außenwelt? Autistischer Stillstand? Aufgegangen in der Seele des Gnu's, verloschen in ewiger Gleichgültigkeit, fernab der alten, bewährten Konzepte von Freude und Schmerz, jenseits von Feindschaft oder Liebe?

Und wenn sie noch lebte, an was würde sie sich erinnern, nach einer Viertelmillionen Jahre Marsch durch die planetenweite Wüste? Oder war sie vielleicht schon tot, vor Zehntausenden von Jahren gestorben, irgendwo da unten, in der fremden Wüstenwelt, in einem Universum, das außer mir niemanden enthielt, der noch an sie dachte, und ich so weit weg, irgendwo zwischen den Sternen?

Der Computer hat den Grabenbruch identifiziert. Die PARSENQUEEN setzt zur Landung an. Wir werden auf den Meter genau an der Stelle landen, wo wir sie vor 262_000 Jahren ausgesetzt haben. Ich habe wenig zu tun. Vielleicht ein Nachteil, daß das Schiff soviel alleine tun kann: Man hat soviel Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen.

Fünfzig Millionen Tonnen. Sanft wie eine Feder. Ein gutes Schiff. Ich war einmal sehr stolz drauf. Im Laufe der Zeit hat sich das aber gelegt. Zuviel Leben haben die Geschütze dieses Schiffes ausgelöscht, für fragwürdige Zwecke.

Jetzt ist es geschehen. Das Schiff ruht auf seinen Landebeinen. Seit wie lange zum ersten Male? Es ist eine Sache von Sekunden, die Drohnen auszuschicken. Bald werde ich von jedem Gnu wissen, wo es sich auf dem Planeten aufhält.

Das Bild auf den Panoramabildschirmen: Die Tiefebene im Westen, die Eiswüste im Südwesten. Kaum voneinander zu unterscheiden. Die senkrechte Felswand, die nur zweihundert Meter vom Schiff entfernt in die Tiefe fällt, schwindelnde 3_600 Meter. Von hier nicht direkt sichtbar, aber draußen, erinnere ich mich, von der Wüste aus, selbst aus einer Entfernung von hundert Kilometern, wirkt sie wie eine Mauer, quer durch die Wüste, umgehbar, wenn man Umwege von hunderten Kilometern Umweg in Kauf nimmt, aber nicht von vorne besteigbar. Nicht einmal durch ein Cimbal-Gnu.

Der Blick ist weit und klar. Nur dicht am Boden der Ebene treibt der ewige Wind den Sand vor sich her. Hier, aus der Höhe, ist der ferne Horizont im Westen wie mit dem Lineal geschnitten. Ich bilde mir ein, ich könnte dort ein Tier oder einen Menschen sehen, wenn jetzt dort jemand stände. Das ist natürlich unmöglich. Der Horizont ist Hunderte von Kilometern entfernt.

Ich würde gerne rausgehen. Aber der Gedanke an die Kälte hält mich noch zurück. Der Bildschirm liefert die gleiche Qualität, die man mit bloßem Auge haben kann. Und ich warte ja auf die Meldungen der Drohnen. Das Gnu, das Ruth ist, ist markiert. Wenn es noch lebt ...

Ruth, was könnte ich Dir erzählen. Was ich gesehen habe! Oder Du mir? Du bist einige tausend Male älter als ich. Schließlich habe ich nur eine Handvoll Jahrzehnte Eigenzeit zurückgelegt, bedingt durch die unvermeidliche relativistische Zeitdehnung. Stehe ich wie ein Kind vor Dir? Oder stagniert das Bewußtsein, wenn man Jahrtausend für Jahrtausend immer nur die gleiche Wüste sieht? Würdest Du mich am Ende nicht mehr verstehen? Bin ich es, der weit herumgekommen ist? Bin ich es, der alt ist? - Ich fühle mich, als türmten sich seit dem Paradiese Jahrhundert für Jahrhundert auf meinen Schultern.

Andere Bildschirme kommen zum Leben. Die Sendungen der Drohnen, die ihre Operationsgebiete erreicht haben, kommen herein. Sie steigen wieder ab in die Atmosphäre und beginnen die Suche. Schon lange nicht mehr hat die Kommandozentrale des Schiffes in einem solchen Licht erstrahlt. Gelb und braun und ocker. Dutzende von Bildschirmen zeigen Landschaften aus allen Teilen des Planeten. Wüste mit hochstehender Sonne, Wüste mit aufgehender Sonne, Wüste mit untergehender Sonne, Wüste vor kahlen Bergen am Horizont, Wüste von kahlen Bergen aus gesehen, Wüste aus 20_000 Metern Höhe, Wüste aus 30 Zentimetern Höhe. Wüste mit Dünen aus feinem Sand, Kiesebenen, Wüste mit Felsgeröll, Wüste bei Nacht im Infrarotlicht. Variationen über ein Thema. Keine Gnus. Kein Halm Vegetation.

Die Luftanalyse ist fertig. Die Werte sind dieselben wie vor 262_000 Jahren. Die rote Sonne dieses alten Planeten hat sich auch nicht verändert. Daran liegt es nicht.

Und immer noch wird kein Leben gefunden. Längst schon müßte eine der Sonden wenigstens irgendetwas gefunden haben! Ich entschließe mich, die arktistaugliche Kombination und das Sauerstoffgerät anzulegen und rauszugehen. Kein Raumanzug. Ich will die Kälte spüren. Ruth hat sie ja schließlich auch gespürt.

Das Schiff von außen: In dieser wuchtigen Stahllinse verbrachte ich mein Leben. Zahllos, die Kratzer, die abblätternde Farbe. Der Schriftzug "PARSENQUEEN" ist kaum noch erkennbar. Der harte Spezialstahl hat die Farbe von gewachsenem Fels bekommen, unter dem langen Bombardement kosmischer Strahlen und feinen, schnellen Staubteilchen.

Es ist eiskalt. Ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt. Wie ein Hammer schägt die Kälte auf die Gesichtshaut, beißt in die Glieder, ätzt die Bronchien. Jedem Atemzug ein eigener Entschluß. Wie hat man jemanden hier aussetzen können, auf diesem Planeten, der nur eine ins gigantisch vergrößerte Baugrube ist, eine sterile, abweisende Eiswüste? Was haben wir getan?

Sei vernünftig, sage ich mir. Sie hat den Organismus und den Stoffwechsel eines Cimbal-Gnus. Ob und woran sie gelitten hat weiß ich nicht, aber an der Kälte gewiß nicht.

Ich trete an die Felskante heran. Da sind sogar einzelne Felsen, die ich wiedererkenne! Gewisse Kanten und Linien. Hier oben kommt der treibende Staub nicht hin, schleift nichts ab. Nur herumliegendes Geröll. Wenn der Wind nicht wäre, dann könnte man sogar noch unsere Fußspuren von damals finden, wenn es hier Sand gäbe.

Die Tiefebene, unwirklich fern unter mir. Die klare, dünne Luft von IRIDIS erzeugt kaum etwas von dem blauen Schimmer, der auf anderen Planeten das Gefühl von Ferne und Tiefe gibt. Die Felswand fällt einfach vor meinen Füßen in die Tiefe - ich müßte mich gefährlich weit nach vorne beugen, wenn ich nachsehen wollte, ob es hinter den ersten Metern Griffe zum Absteigen gibt.

Ich umklammere das Gerät, das mich mit dem Schiffscomputer verbindet. Wenn eine der Drohnen etwas findet, dann will ich es sofort wissen. Aber der Computer schweigt. Er hat nichts zu sagen. Er hat eigentlich nie etwas wirklich wichtiges zu sagen.

Es ist wie damals, als wir Dich aussetzten, Ruth. Die Sonne steht jetzt tiefer, es ist Abend. Wie beziehungsvoll, damals war es ein klarer, frischer, früher Morgen. Der Morgen eines langen Tages. Kann kaum sehen, wegen der beißenden Kälte. Tränen. Alles verschwimmt. Es ist nur die Kälte, die schmerzt. Ruth, meine Ruth ...

Warum zum Teufel gibt es keine Gnus mehr? Ich bin durch das halbe Universum geflogen, wofür? Haben wir ihnen versehentlich einen Virus gebracht? Oder war die Zeit dieser Rasse sowieso schon gekommen? Haben wir Dich auf ein sinkendes Schiff gerettet?

Ruh, ich könnte Dir Dinge erzählen, die Du selbst, wir zusammen, gesehen haben könnten, wenn wir nur mehr Zeit zusammen gehabt hätten. Auch in den Zeiten des Krieges hat es Schönheit gegeben. Gelegentlich. Da waren die gigantischen leuchtenden Wasserfälle auf CHARMION, die sprangen donnernd aus dem Tannhäuser Tor, und stürzten in die Tiefe, zerbarsten im Licht, und in Milliarden von Farben. Da waren die Ebenen auf TAURIS 4, mit ihren paradiesischen Gärten, ihrer farbigen Flora. Sie hätten Dir gefallen. Nie ist der Krieg dorthin gekommen.

Und da waren Seestrahlen, glitzernd im Dunkeln der Tiefsee auf OCASTEN, die eine geheimnisvolle Zivilisation aufgebaut haben, die nie ein Mensch verstanden hat. Und die fliegenden Fischsaurier auf SARMOS, die so zahm und gutmütig waren, daß sie Menschen gestatteten, sie auf Ihren Tänzen zwischen den Wolken zu reiten. Nie habe ich geahnt, welche Schönheit in den blendend weißen Wolken herrscht, in den Bergen und Tälern, wo Kraft und Herrlichkeit wohnen, wo der Donner über den Gletschern rollt und die Sonne die schneebedeckten Gipfel in gleißenden Glanz taucht, wo die Luft klar ist, und der Himmel rundherum groß und hoch und weit.

All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. Mit Dir zusammen, oder ohne Dich: Es wird vergessen werden. Es ist nicht geschehen, es hätte geschehen können. Wo ist der Unterschied? Noch einmal anfangen, etwas wesentliches anders machen. Vorbei, vorbei. Winter. Erinnerungen verblassen, verändern sich. Nichts bleibt. Das Leben war ein reich gedeckter Tisch. Ich bin wahrlich nicht zu früh aufgestanden. Dafür sitze ich jetzt allein an der Tafel.

Die Drohnen finden nichts. Ist es besser so? Sie hatten mich damals gewarnt. Ein Neuronales Netz kann nicht aus sich selbst heraus Bewußtsein tragen. Es braucht die Außenwelt, und es ist der Zerrspiegel einer Außenwelt, mit der es wechselwirken kann. Wenn in dieser Außenwelt wenig geschieht, dann geschieht auch wenig im Netz. Vielleicht haben die Cimbal-Gnus deshalb keine hohe Intelligenz entwickelt, trotz ihres mächtigen Cortex. Oder keine, die wir als solche erkennen konnten. Der Geist eines Menschen entspricht jedenfalls nicht der Umwelt auf diesem Planeten.

War das Dein Schicksal, Ruth? Aufzuwachen, durchzukommen zur Außenwelt, nur um zu sehen, daß diese Außenwelt öde und leer ist? Dann reiht sich Jahrhundert an Jahrhundert, Jahrtausend an Jahrtausend. Du weißt nicht, wie Du dahingekommen bist. Alle Deine Erinnerungen haben mit Deiner jetzigen Existenz nichts zu tun. Es sind nur Träume, aus einer anderen, verrückten Welt. Sogar ich war für Dich nur noch eine Legende, eine Sage, ein verblassendes Bild. Im Laufe der Zeit hast Du vergessen: mich, Deine Welt, Gefühle. Bist ein Gnu geworden wie alle Deine Artgenossen? Die Erinnerungen verschwanden völlig. Ein Gedächtnis verändert sich immer, wenn man es benutzt. Und Du hast soviel mehr Zeit gehabt als ein Mensch. Sind Dinge für Dich wichtig geworden, die für ein Gnu wichtig sind? Bist Du so Teil ihrer Welt, und sie Teil Deiner Welt?

Eine Art ewiges Leben im Diesseits - ein sinnloses und albernes Konzept. Wer fühlt und denkt, verändert sich, in so langer Zeit über die Grenzen aller Wiedererkennbarkeit. Was lebt denn da ewig, wenn der Geist nach Jahrtausenden schon so verschieden geworden ist, daß er ein ganz anderes Individuum repräsentieren könnte?

Hast Du noch in Deiner Todesstunde an mich gedacht? Oder an irgendetwas aus der Welt der Menschen? Hast Du noch gewußt, was die Sterne über Deiner letzten Ruhestätte in Wirklichkeit sind? Die Bedeutung des großen, fahlen Feuerrades am Nordhimmel, unsere Galaxis? Ihr Gnus habt empfindliche Augen, und der Himmel ist auf IRIDIS nie bewölkt. Du hast Deine Heimat jede Nacht gesehen. Hast Du sie erkannt, die Milchstraße?

Oder war es anders? Hast Du Dich mitteilen können? Hat Dich einer Deiner Artgenossen verstanden? Haben sie Schaden genommen, wenn Du versucht hast, etwas zu sagen? Waren so fremdartige Ideen, aus dieser anderen Welt, Gift? Gift für das Bewußtsein eines Gnus, das ja so stabil sein muß, daß es Jahrzehntausende leben kann, einfach nur leben? Hast Du sie am Ende lebensunfähig gemacht, mit der Legende einer anderen Wirklichkeit? Der Cortex ist schließlich ein chaotisches System. Es kann in einen stabilen, dauerhaften Zustand gesetzt werden. Es muß aber nicht. Du hast vielleicht das Chaos gebracht.

Hat dann mit dem Aussterben der Gnus auch die Stunde der restlichen Lebensformen geschlagen? Das System war stabil gewesen, und wir haben durch Dich vielleicht einen Störfaktor hineingebracht.

War es so? Ich werde es nie wissen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Diese Kälte. Ein toter Planet. Das einzig sichere Faktum.

Ich gehe ins Schiff. Steif. Die Kälte bleibt in meinen Knochen. Die Drohnen kehren zurück. Der Planet ist definitiv ohne Leben. Nicht einmal Überreste. Kein einziges organisches Molekül. Er muß schon seit Jahrtausenden ohne Leben sein.

Ruth, wo bist Du jetzt? Die Überreste Deines menschlichen Körpers auf CHANGOR? Atome vielleicht noch, verstreute. Die Datenträger mit Deinem synaptischen Muster? Längst schon wieder neu verwendet, oder zerstört. Die Reste Deines Gnu-Körpers? Zerfallen, zerrieben von dem ewig treibenden Sand, die Atome über ganz IRIDIS verteilt.

Wir waren nur Gast auf dieser Welt. Du hast Deine Bausteine schon zurückgegeben.

Was macht es jetzt noch für einen Sinn, weiter zu suchen? Wen oder was denn? Die Kälte. Sie verläßt mich nicht mehr. Ich kann das ganze Schiff heizen, trotzdem.

Nein, geh weg, Medrobot. Mir fehlt nichts. Das kannst Du nicht verstehen. Ich bin ein Relikt. Experimental Evolution. Versagt. Meine ganze Rasse. Der Mensch führt Krieg und wirft sein Liebstes fort. Hau ab, Medrobot, das ist ein Befehl!

Vielleicht hätten wir einen Sinn finden können. Wenn wir die Wahrheit nur gesucht hätten anstatt ihren Besitz zu behaupten. - Diese Kälte, diese alles durchdringende Kälte.

Ich bleibe jetzt hier in der Zentrale sitzen, sehe auf den Panoramaschirm. Laß mich in Frieden.

Grünrotes, großes, leeres, weites Land. Ich sehe in die Ferne. Die Sonne sitzt auf dem Horizont auf. Könnte man jetzt Silhouetten gegen die rote Scheibe erkennen ...

Immer weht der Wind. Immer und immer wieder. Kalt und beißend. Farbenspiele. Nebelschleiertanzen wie Feen über der Ebene, schimmernd im Licht. Die Berge tragen karge Gleichgültigkeit. Die Kälte tritt auf den Sand, Frost bricht die Felsen, schweigende Schatten überall.

Herr: Es ist Zeit. Der Tag war sehr groß. Haben wir ihn genutzt? Jetzt, die Dunkelheit ...

Morgen früh wird die Sonne wieder aufgehen. Wie schön der Tag sein wird.

Dann bin ich bei Dir, Ruth.


© 1996 .. 1999 Josella Simone Playton 1999-07-03 23:00:00 MESZ


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