Das Lied von der Lore


Josella Simone Playton


Das ist die Lore. Gerade eben hat sie ihr Abitur hinter sich gebracht, gerade eben ihr Studium angefangen. Eine glänzende Zukunft liegt vor ihr - endlich kann sie sich mit den Dingen beschäftigen, die sie wirklich interessieren, und sie wird nicht mehr durch die weniger interessanten Fächer aufgehalten. Sie spürt den Duft der persönlichen und der intellektuellen Freiheit. Vielleicht liegen nun die schönsten Jahre ihres Lebens direkt vor ihr.

Glück hat sie auch gehabt. Sie hat nicht nur auf Anhieb einen Studienplatz bekommen, nein, sogar eine Bude fand sie, kaum, daß sie angefangen hatte, danach zu suchen. Nun zieht es zwar nicht so besonders viele Studenten nach Clausthal im Oberharz, aber die Zeiten, wo man auf eine Wohnungsanzeige zwanzig Angebote bekommen konnte, waren auch hier schon seit Jahrzehnten vorbei.

Das ist die Lore. Sie mag die großen Städte nicht, und sie hat hier bekommen, was sie suchte. Hier die Wissenschaft, und dort das alte Mittelgebirge: Waldberge und Täler, Stauseen und kahle, windzerzauste Höhen. Hochmoore und ein paar Totwald-Wüsten. Der Oberharz ist eigentlich für Menschen unbewohnbar, in historischer Zeit aus Gründen des Klimas und des Regens, in jüngster Zeit aus Gründen des Klimas und des Sauren Regens. Aber wenn man noch jung ist und ein sonniges Gemüt hat und die Zukunft noch als Gebirge aus individuellen Möglichkeiten mit Erfolgsgarantie sieht, dann kann man die gelegentlichen kahlen Hänge und die öden Bergrücken übersehen. Die Lore hat ja nie die Hanskühnenburg gesehen, als sie noch mitten im Wald stand. Sie kann sich ja nicht daran erinnern, daß es einmal möglich gewesen ist, von Bad Sachsa bis nach Goslar zu wandern, ohne den Wald ein einziges Mal zu verlassen.

Sie wandert gerne, und sie fährt gerne Rad. Vorgestern, gestern und heute. Was kann man die Pumpe trainieren, wenn es bergauf geht (im Harz geht es meistens bergauf), was kann man sich dem Geschwindigkeitsrausch hingeben, wenn es mal bergab geht, und wenn der Wind gerade mal NICHT von vorne kommt!

Das ist die Stieglitzecke. Mehr als 800 Meter über dem Meer. Die lange Fahrt von Braunlage aus war Arbeit, jetzt geht es ans Ernten. Umwandlung von potentieller Energie in kinetische Energie. Die Lore studiert Physik, und sie weiß, daß das Fahrrad eines der höchstentwickelten Fahrzeuge zu Lande ist. Mit nichts anderem bekommt man für die Wattsekunde soviel Resultate als wie mit dem Fahrrad.

Das ist die Stieglitzecke, und jetzt geht's auf der Harzhochstraße bergab. Links, auf einer kahlen Anhöhe, drehen drei Windgeneratoren. Drei Alibigeneratoren. Den Wald werden auch sie nicht retten, aber die Lore ist nicht in Stimmung für Zynismus. Es geht bergab, und der ganze nödliche Oberharz liegt vor ihr und unter ihr. Man kann die Hochebene um Clausthal herum sehen, die Schalke im Norden, wo immer noch die Türme der alten Fernmeldeaufklärungsstellungen vor sich hin rosten, die Vorberge im Westen, in den Dunst des Harzvorlandes übergehend, unter der tiefstehenden, roten Abendsonne, die nur deshalb so rot ist, weil soviel Scheiß in der Luft ist. Aber es sieht gut aus, und die Lore will nicht genau wissen, warum es so aussieht - jetzt jedenfalls nicht. Es geht bergab, und die Fahrt nimmt zu. An dieser Stelle denkt sie immer an eine Phantom, die über die Tragfläche abkippt und ihre Nase in den Sturzflug drückt. Mit einem Fahrrad geht es nicht ganz so elegant, aber die 220 Höhenmeter, die sie bis zum Sperberhaier Damm verlieren wird, wird sie bestmöglich verwenden.

Das ist das Fahrrad der Lore. Sie hat ein gutes Fahrrad. Keinen Motor und keine Zusatzenergiequelle - das wäre gegen die ungeschriebenen Spielregeln. Der Radfahrer bringt seine Energie über seine Quadrizeps femuris bei, über Lunge und Herz und über sonst gar nichts. Aber Akkus im Fahren aufladen und die Energie später wieder verwenden, das ist erlaubt, und ein bißchen Elektronik für dieses und jenes, das ist auch erlaubt. Die Akkus sind voll - auf der langen Strecke von Braunlage bis hierher hat sie viel Energie auf Halde produzieren können. Der Bordprozessor sorgt für die bestmögliche Verwaltung der Energie und für vieles andere.

Es ist kaum Verkehr. Nichts, was die rasende Talfahrt der Lore bremsen könnte. Die digitale Tachometeranzeige steigt über 70 Kilometer pro Stunde. Schallgrenze für ein konventionelles Fahrrad. Nicht aber für die Lore.

Der Harz fällt auf sie zu. Wieder denkt sie an die Phantom. Kein PKW vor ihr, aber wenn da einer wäre - gleich würde sie ihn überholen können. Was ist das Leben schön, wenn man stark und schnell und erfolgreich ist!

Die Achsengeneratoren brauchen eine hohe Spannung, wenn sie bei diesem Tempo noch als Elektromotoren funktionieren sollen. Seit Braunlage, und vorher schon, hat sie wenigstens 10 bis 20 Watt für das Laden der Akkus erübrigen können. Jetzt hat sie genug, um für kurze Zeit fast ein halbes Kilowatt zu entnehmen, dazu das, was sie in die Pedale tritt, plus die potentielle Energie, die sie verliert. Im Moment kommt sie auf ein besseres Leistungsgewicht als ein PKW. Naja, fast. Aber bis unten wird sie die hundert deutlich überschritten haben.

Links irgendwo der Waldweg in das Morgenbrodstal. Je tiefer sie kommt, desto dunkler wird es. Hohe Fichten rechts und links, und es ist schon reichlich spät. Automatisch wird das Licht angeschaltet - die drei Watt kann man noch erübrigen. Die Lichtanlage hängt am Bordnetz, das ständig unter konstanter Spannung steht. Ob Schrittgeschwindigkeit oder Tiefflug - der Bordprozessor würde nie erlauben, daß sich die Netzspannung nur einen Millivolt von den 12 Volt entfernt. Der Bordprozessor würde nie etwas erlauben, was das Fahrrad oder seine Fahrerin gefährdet.

Die Lore hat ein gutes Fahrrad. Sie ist stolz darauf. Es ist ihr Fahrrad, es ist ihre Phantom, sie ist wie der Nachtwind über den Waldbergen. - Naja, fast: wie ein straßengebundener Nachtwind.

Die Akkus erreichen ihren Tiefentladepunkt. Die Generatoren können nicht mehr als Motoren betrieben werden. Damit hat die Lore ihre höchste Geschwindigkeit für heute erreicht. Da vorne biegt die Straße nach Altenau rechts ab, dahinter wird sie selbst links vom Sperberhaier Damm langsam ausrollen. Später wird sie auf den letzten Kilometern nach Clausthal noch einmal Höhe gewinnen müssen - mit leeren Akkus heißt das treten. Kein Problem für die Lore - sie ist gut in Form. Sie war immer gut in Form und wird immer gut in Form sein. Andere tragen in ihrem Alter die ersten Ansätze einer Wampe vor sich her. Freizeitsportler nicht. Die Lore auch nicht.

Aus der Einfahrt zur Straße nach Altenau schiebt sich ein unbeleuchteter PKW heraus. Genau in den Fahrweg der Lore.

Es wäre alles zu spät gewesen - die Lore fährt zu schnell. Aber die Ultraschalldetektoren haben das Hindernis erkannt. Der Bordprozessor weiß, was zu tun ist. Schnell hat er den Ausweichkurs ausgerechnet. Es gibt keine andere Möglichkeit - sie müssen auf die andere Straßenseite hinüber, und zwar schnell.

Die Servolenkung schlägt hart zu. Wenn der Lenkausschlag groß wäre, dann würde die Lore glauben, ihr würden die Unterarme gebrochen. So aber fühlt es sich nur so an, als ob sie einen elektrischen Schlag erhält. Und sie hat keinen Einfluß mehr auf die Steuerung - die Lenkstange macht, was sie will.

Um nach links auszuweichen, muß das Vorderrad zunächst nach rechts steuern, um das ganze Fahrrad durch Rotation um die Längsachse in eine angemessene Schräglage zu bringen. Dann ist es möglich, eine so scharfe Linkskurve zu fahren, daß der neue projektierte Kurs den Kurs des PKW nicht zeitgleich schneidet. Ein gefährliches Manöver, und es muß schnell geschehen. Schneller als ein Mensch das tun kann.

Sie fühlt einen bösen Schmerz im Rücken. Das Manöver kam zu unerwartet. Weil sie es ja selber nicht eingeleitet hat. Aber sie sieht dicht neben ihrem rechten Unterschenkel die Stoßstange des PKW, der sich immer noch unverändert nach vorne bewegt. Aber die beiden Fahrzeuge berühren sich nicht, und schon sind sie aneinander vorbei.

Das Fahrrad stabilisiert sich, und die Lore fährt ganz auf der linken Straßenseite am Sperberhaier Dammhaus vorbei. Sie hat großes Glück, daß niemand von vorne kommt. Sie ist gerade dabei, zu begreifen, daß sie noch einmal ganz knapp davon gekommen ist.

Der Bordprozessor erkennt, daß sich das Fahrrad auf der falschen Straßenseite befindet. Weiterhin erkennt er, daß die Fahrerin keine Anstalten macht, wieder auf die rechte Straßenseite zu gelangen. Dann muß er das selbst tun. Wieder übernimmt die Servolenkung die Kontrolle über das Fahrrad, nachdem die Lore für einige Sekunden in die Lenkung hätte eingreifen können. Diesmal ist der Straßenseitenwechsel sanft, da es sich nicht um ein Notmanöver handelt. Gleichzeitig werden die Achsengeneratoren als Bremse geschaltet. Das ist einfach - sie speisen nun über ein Schaltnetzteil das Bordnetz. Vor ein paar Sekunden war es noch umgekehrt.

Vor ein paar Sekunden jedoch hatte der Prozessor erkannt, daß die Akkus den Tiefentladepunkt erreicht haben. Er war gerade dabei, die Achsengeneratoren vom Motor- auf den Generatorbetrieb umzuschalten. Er hatte aber noch nicht den internen Statusvektor, der den Zustand des Fahrrades und seiner elektrischen Einrichtungen beschreibt, aktualisiert, weil das Notausweichmanöver vorgenommen werden mußte: Interupt mit crash priority. Als er jetzt zum Zwecke des Abbremsens von Motorbetrieb in den Generatorbetrieb umschaltete, tut er in Wirklichkeit ganz genau das Gegenteil, weil er von der speicherresidenten Annahme ausgeht, daß immer noch Motorbetrieb vorliegt. Das ist aber nicht der Fall, und so wird, als der Wechselschalter wieder in die andere Position geworfen worden ist, den Akkus weiterhin Energie entnommen.

Die Lore macht sich keine Gedanken darüber, daß das Fahrrad plötzlich wieder beschleunigt. Sie kann ja nicht wissen, daß der Prozessor das Gegenteil beabsichtigt hat. Und sie kann auch nicht wissen, daß die Akkus leer sind. Das Notmanöver hat ja auch Energie gekostet. Die Spannung im Bordnetz sinkt rapide. Bevor das Betriebssystem des Fahrrades noch etwas sinnvolles tun kann, stellt der Prozessor seine Arbeit ein.

Das nächste, was die Lore bemerkt, ist, daß die Lenkung blockiert. Sie war noch nicht wieder freigegeben worden. Die paar Volt, die die Akkus noch hergeben, reichen zwar nicht mehr für den Prozessor aus, aber die Lenkstange scheint plötzlich wie angeschweißt zu sein.

Niemand kann so radfahren. Die Lore reagiert zu langsam - ihr sitzt noch der Schreck im Blut. Sie weiß die Gefahr hinter sich, sie weiß, daß die Gefahr eigentlich gebannt ist. Zu spät erkennt sie, daß auch eine nur mäßig schnell fahrende Radfahrerin sich bei einem Sturz schwer verletzen kann. Und sie ist ja noch ziemlich schnell. Sie sieht die Leitplanke auf sich zukommen. Wie ein stumpfes Schwert schlägt das Metall unter ihrer Kinnlade in ihren Hals hinein. Dann rollen Himmel und Gras durcheinander. Sie fühlt eine ohnmächtige Wut über diesen Gewaltakt, der an ihrer Person verübt wird. Als sie einige Meter von sich entfernt einen menschlichen Körper liegen sieht, der seltsamerweise dasselbe trägt wie sie selbst, wundert sie sich.

Sie wundert sich immer noch, als alles schwarz wird.

Das ist die Lore. Gerade eben hat sie ihr Abitur hinter sich gebracht, gerade eben ihr Studium angefangen. Eine glänzende Zukunft liegt vor ihr - endlich kann sie sich mit den Dingen beschäftigen, die sie wirklich interessieren, und sie wird nicht mehr durch die weniger interessanten Fächer aufgehalten. Sie spürt den Duft der persönlichen und der intellektuellen Freiheit. Vielleicht liegen nun die schönsten Jahre ihres Lebens direkt vor ihr.

Vielleicht aber auch nicht. Denn die Lore ist tot.


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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Copyright © 1997 und alle Rechte verbleiben beim Heise-Verlag. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.


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