Wetterstation


Josella Simone Playton


Sabine hält sich immer wenigstens zwei Meter von der Kante der Plattform entfernt. Der Wind ist ziemlich heftig, und auch, wenn er sie nicht so einfach hinunterdrücken kann, so könnten doch plötzliche Wirbel entstehen. Dann vielleicht noch ein leichtes Stolpern - und schon ist es passiert. Die Fallstrecke bis zum Boden ist etwa 48 Meter. Das reicht.

Sie sucht den Horizont mit bloßem Auge ab. Der mittlere Antennendom des Turmes, auf dessen Oberkante sie steht, enthält Sinnesorgane, die um einiges weiterreichen als ihre bloßen Augen. Aber ihre elektronischen Ohren sagen ihr, daß etwa 50 bis 60 Kilometer von hier entfernt, im Süden, eine schwere Gewitterfront aufzieht.

120 Kilometer südlich liegt die Parson's Range - Wilde Bergketten bis zu 7000 Metern. Wenn südlich davon, in den Cameron-Sümpfen, feuchte Luftmassen gegen die Parson's Range gedrückt werden, dann entstehen gelegentlich Föhnstürme, die in dieser heftigen Form auf wenigen Planeten vorkommen. Bei diesen Orkanen schwankt der Turm trotz seiner soliden Bauweise so, daß man in der 9. Etage nicht auf der Toilette sitzen kann, ohne sich am Südende naß zu machen.

Föhn ist jetzt auch, aber der steife Wind aus dem Süden steigert sich nur gelegentlich bis zur Sturmstärke. Wie immer bei solchem Wetter ist die Silhouette der Parson's Range, trotz der großen Entfernung, klar zu sehen.

Keine Spur von einem Gewitter zwischen hier und dort.

Manchmal vermißt Sabine die Gelegenheit zu fachlichen Diskussionen. Jetzt zum Beispiel. Sie hat keine Idee, wie dieser Widerspruch erklärt werden kann. Der nächste lebende Mensch ist aber Lichtjahre entfernt, das Ablösungsschiff wird erst in 16 Monaten kommen. Ein Drittel ihrer zweijährigen Dienstzeit auf diesem unwichtigen Planeten am Rande der Galaxis hat sie rum - und schon taucht ein Problem auf, dem sie nicht gewachsen ist.

Sie hat mal gedacht, daß das zwei ruhige Jahre werden. Balmer's Planet ist erdähnlich, wurde ihr versprochen. Stimmt auch - sie braucht bloß auf die bewaldeten Mittelgebirgshöhen rundherum zu sehen. Außerdem kennt sie die richtige Erde gar nicht aus eigener Erfahrung - manchmal wird als 'erdähnlich' alles bezeichnet, was eine Pflanzenwelt mit Photosynthese und eine Sauerstoffatmosphäre hat.

Die Meteorologie erdähnlicher Planeten ist gut erforscht. Eigentlich bräuchte man keine Wetterstation auf einem unbewohnten Planeten. Aber wer auf einem Planeten eine permanente Einrichtung dieser Art baut, der gibt so seinen Besitzanspruch auf diesen Planeten zu erkennen. Das Imperium ist sehr besitzergreifend. Sabine weiß, daß es außer ihr noch viele tausend Meteorologen - manchmal sind es auch Geologen, Biologen, Archäologen oder Paläontologen - auf irgendwelchen einsamen Planeten ihren Dienst in einer Beobachtungsstation schieben. Allen gemeinsam ist ihr Dienstherr - die Flotte des Imperiums. Auch einen Offiziersrang haben sie alle. Sabine ist Major, und wenn sie eines Tages ihren Dienst in der Flotte quittieren wird, dann hat sie die besten Chancen in der Wirtschaft.

Das wird allerdings nicht der Fall sein, wenn sich herumspricht, daß sie ein Gewitter gesehen hat, wo keines war.

OK, sagt sie sich. Dem muß nachgegangen werden. Und zwar BEVOR sie irgendwelche Eintragungen ins Logbuch der Wetterstation macht. Die lassen sich nämlich nicht nachträglich korrigieren.

Noch einmal geht sie um die ganze Plattform herum, sieht nach allen Seiten, zieht die milde Luft ein, spürt den Wind, den Geruch des endlosen Waldes, der vielleicht genauso riecht wie die Wälder der Erde einst gerochen haben. Da sind immer noch die alten Reflexe, in Jahrmillionen konditioniert, jedem Menschen im Blut. Diese Reflexe stimmen hier, weil Balmer so erdähnlich ist. Und sie sagen: Kein Gewitter. Föhn.

Sie steigt wieder ein und verriegelt sorgfältig die Luke. Im neunten Stockwerk, gleich unter dem ausladenden Antennendom, setzt sie sich an eine der Konsolen. Die elektromagnetische Gesamtlage. Ist eigentlich einfach auf einem Planeten, wo jegliche künstliche elektromagnetische Aktivität nur von dieser Station ausgeht. Was gibt's an natürlichen elektromagnetischen Quellen? Dasselbe wie in jedem ähnlichen Sonnensystem: Auf diesem Planeten die Gewitter, dann die Wechselwirkung des Sonnenwindes mit der Ionosphäre, die Ausstrahlungen der Sonne von Balmer's Planet selber, und der galaktische Hintergrund. Das kennt man, das kann man alles gut auseinanderhalten. Ihre Geräte verraten ihr jedes aktive Gewitter auf dem ganzen Planeten. Das hat bisher immer gestimmt.

Und jetzt ist südlich von ihr ein Gewitter, das sie nicht sehen kann.

Verärgert und frustriert lehnt sie sich zurück. OK, Daniels, sagt sie sich, jetzt zeigt sich, ob du dein Gehalt wert bist. Vielleicht ist das jetzt schon der Preis? Der Preis dafür, daß sie außer dem Routine-Dienst in den bisherigen acht Monaten nicht viel getan hat?

Ehrlich sein - auch wenn's schwer ist: Es gibt immer mehr Tage, an denen sie Routine-Tätigkeiten verrichtet hat und sonst gar nichts. Was hat sie alles tun wollen, in dieser Zeit des freiwilligen Exils, ungestört durch unharmonisch verlaufende Beziehungskisten! Welche Bücher warten darauf, gelesen zu werden, welche Symphonien gehört und welche Kunstwerke wenigstens zur Kenntnis genommen! Vielleicht noch eine zweite Forschungsarbeit. Naja, auf Balmer's Planet gibt es nichts wirklich Wesentliches zu erforschen. Aber mit solchen Rückschlägen muß man fertig werden. Sie hat alle Literatur der Welt zur Verfügung. Nichts aus ihrem Fachgebiet, das nicht im Rechner des Turmes enthalten gewesen wäre - alle Veröffentlichungen bis vor acht Monaten. Da gibt es noch soviel aufzuarbeiten, noch so viel zu lesen und zu lernen. Statt dessen läßt sie die Zeit vergehen. Ob sie angefangen hätte, zu trinken, wenn es auf dem Turm Alkohol gegeben hätte?

Die Bilanz ist im Laufe der Monate deutlicher geworden: Sie ist dabei, intellektuell zu verrotten. Vielleicht hat das alles eine ganz naheliegende Lösung, und sie sieht diese bloß nicht?

Hinter ihr, an der Wand, hängt ein Bild eines ebensolchen Turmes wie der, der diese Station beherbergt. Aber es ist ein Bild aus einer anderen Zeit. Tausende von Jahren ist es her, tausende von Lichtjahren entfernt. Jener Turm stand auf der Erde. Eine Einrichtung, die lange vor den Ökokriegen benutzt worden war. Ob es auch eine Wetterstation war, oder eine Kommunikationseinrichtung, oder gar eine militärische Installation, wie einige sehr spekulative Historiker behaupten - niemand weiß es. Die Bildunterschrift sagt: 'Stöberhai, Südharz'. Der Harz ist ein Mittelgebirge auf der Erde - auf der 'richtigen' Erde. Was ein 'Stöberhai' ist, weiß man nicht mehr. Deshalb hat man diesen Turm auf Balmer's Planet so genannt. Historisches Vorbild - die Flotte liebt Traditionen. Außerdem klingt '... Hai' für eine Einrichtung der Flotte angemessen agressiv.

Natürlich würde diese Wetterstation notfalls weitaus mehr Aufgaben übernehmen können als jener antike Turm - sogar militärische Aufgaben sind denkbar - letztlich und immer noch ist die Flotte eine militärische Organisation - und deshalb ist die gerätemäßige Ausstattung auch gar nicht so schlecht. Daran liegt es bestimmt nicht, wenn Sabine nicht rauskriegt, was es mit diesem nichtexistierenden Gewitter auf sich hat.

Sie steht auf, geht über den zentralen Schacht ein Stockwerk tiefer. Den Aufzug nimmt sie schon lange nicht mehr. Erstens ist es gesünder, und zweitens - wenn der Aufzug defekt ist, dann hilft ihr hier keiner. Man würde in 16 Monaten ihre Mumie finden. Solche Gefahren wären eigentlich Grund genug, wenigstens zwei Menschen als Besatzung für eine solche Station vorzusehen. Aber erstens kostet das zwei Gehälter, und zweitens ist es oft genug vorgekommen, daß es in solchen Fällen Agressionsausbrüche mit ernsthaften Folgen gegeben hat. Also Besatzung nur eine Person. Den einen tödlichen Trivialunfall alle 700 Dienstjahre nimmt die Flotte eben in Kauf.

In ihrem Privatraum zieht sie sich ihre Fliegerkombination an. Der Blick in den Spiegel ist kritisch. Die frischen Rangabzeichen hat sie kaum je getragen. Das Namensschild 'Major Dr. Sabine Daniels, Navy Survey' sitzt für eine Frau anatomisch falsch - man sieht es mehr von der Seite als von vorne. Sicher gibt es auch dafür eine Dienstvorschrift oder sogar richtig gute Gründe. Sie zieht den Stoff stramm - es nützt nichts: Brust raus geht, Bauch rein geht nicht. Du wirst fett, sagt sie sich. Das ist doch mit 28 eigentlich noch gar nicht notwendig. Immer die Treppe zu nehmen statt den Aufzug, das reicht offenbar nicht. Sie sieht einfach nicht soldatisch genug aus: Ein Offizier hat Fitness auszustrahlen. Da muß etwas geschehen. Irgendwann.

Jetzt aber erstmal das Gewitter.

Die beiden einsatzfähigen Duocopter der Station stehen in einem unterirdischen Bunker, der durch einen unterirdischen Tunnel vom Turm aus erreicht werden kann. Eine ganze Reihe Einrichtungen dieser Station sind unterirdisch - so als ob die Flotte damit rechnet, daß auf einem völlig unbewohnten Planeten jemand schwere Artillerie gegen harmlose Wetterstationen einsetzt. Aber die Wege der Nachschubs- und Beschaffungsbürokratie der Flotte sind eh ein Geheimnis - Sabine hat, wie jedes andere Mitglied der Flotte, es längst aufgegeben, diese Dinge mit Logik zu erklären oder Nachvollziehbarkeit zu suchen.

Hohl hallen ihre Schritte durch den selten benutzten Gang. Die Luft ist sauber. Keine Spur von Modrigkeit - auch hier unten funktioniert die Luftumwälzung. Auf Balmer's Planet ist das sowieso etwas einfacher, weil die Luft atembar ist - die meteorologischen Stationen auf Planeten, deren Luft nicht atembar ist, haben da ein echtes Problem, und erst recht die Stationen auf Planeten ohne Atmosphäre - wenn sich kein anderer Grund für die Flottenpräsenz finden läßt, dann wird auch auf solchen Planeten gelegentlich eine Wetterstation eingerichtet. Sabine hat sogar von einem Kaltplaneten gehört, dessen dünne Atmosphäre innerhalb weniger Jahre nach Einrichtung einer Wetterstation durch die Abwärme des Reaktors dieser Station vollständig in den Weltraum verdampft ist, so daß es dann gar kein Wetter mehr gab. Die Station wurde natürlich trotzdem weiter betrieben.

Irgendwo hier unten muß auch die Selbstvernichtungseinrichtung der Wetterstation liegen. Sabine weiß, daß es hier so etwas gibt, aber sie hat sich nie um die Details gekümmert. Sie hat nie eingesehen, wozu man Vorkehrungen treffen muß, zu verhindern, daß die Station einem Feind in die Hände fällt, den es gar nicht gibt.

Jeder der beiden Duocopter ist mit dem Rechner im Turm verbunden - alle wichtigen Dinge, die die elektronischen Ohren des Turmes erfassen, kann sie hier in der Kanzel einsehen, so auch dieses Phantom-Gewitter. Sie wird genau dorthin fliegen können.

Wenig später ist sie mit einer der schweren Maschinen unterwegs. Der Lärm der beiden Hubrotoren dröhnt von rechts und links durch die Kanzel und gellt ihr in den Ohren. Schließlich ist auch dieser Duocopter eine Kampfmaschine, und wer Krieg führt, der soll auch gefälligst Gehörschäden davontragen. So oder so ähnlich muß die Flottenlogik dahinter lauten. Sabine hat gehört, daß diese Duocopter noch fliegen, wenn sie schon in Stücke geschossen worden sind. Aber daß die höchstentwickelte Lebensform auf Balmer's Planet, eine Art kleiner, netter und scheuer Koala-Bärchen, der imperialen Militärtechnologie gefährlich werden könnten, kann ja wohl niemand ernsthaft annehmen. An sich könnte man aus diesem Grunde auch die Luft-Luft-Raketen unter den beiden Rotorträgern abmontieren - aber natürlich gibt es eine Vorschrift, die dagegen ist, und Sabine weiß eh nicht, wie man das macht.

Abgesehen von dem Lärm ist der Flug schön. Immer wieder blitzen aus den Tälern versteckte Wasserläufe empor. Stille Seen, sanfte Hänge oder auch schroffe Steilabfälle, alles mit einer Artenvielfalt der Waldflora versehen, die zu erforschen das Lebenswerk tausender von Biologen sein könnten - allerdings betrachtet die Flotte das Blümchenblätterzählen nicht als ihre vorrangige Aufgabe. All diese Wälder, die sie überfliegt, sind noch von keines Menschen Fuß betreten worden. Die wilde Bergwelt der Parson's Range im Süden sowieso nicht - da sind alpine Herausforderungen, die mit Sicherheit noch von niemandem angenommen worden sind und vielleicht niemals von irgendjemanden angenommen werden. Es wird berichtet, so hat sie gehört, daß auf der Erde in grauer Vorzeit alle Berggipfel schon vielfach bestiegen worden sind, so daß hinreichend abenteuerlich veranlagte Menschen zu Fuß über die vereisten Polkappen der Erde marschieren mußten, um wenigstens irgendwo die allerersten zu sein - aber selbstverständlich glaubt Sabine etwas so weit hergeholtes nicht: Die Galaxis ist doch voll von Planeten mit jeder Menge jungfräulicher Berge - wie die scharfen Zacken der Parson's Range vor ihr.

Aber bis dahin will sie heute nicht fliegen. Die Phantomgewitter sind zwischen 50 und 60 Kilometer südlich des Turmes. Auf dem Bildschirm, der die integrierte elektromagnetische Gesamtlage vom Turm aus zeigt, sieht sie einen hellen Punkt nach Süden streben - das ist sie selbst, die Ausstrahlungen ihres Duocopters. Der Punkt ist sogar sichtbar, wenn der Duocopter keine Daten überträgt - die elektrostatische Aufladung der rotierenden Rotorblätter, die vielen, kleinen Sprühentladungen. Die gesamte elektromagnetische Aufklärung ist also in Ordnung.

Als sie im Zielgebiet angekommen ist, hat sich das Bild nicht verändert. Strahlend dunkelblauer Himmel - die Sonne von Balmer's Planet ist ein Stern der Spektralklasse M und enthält nicht sehr viele kurzwellige Lichtanteile. Natürlich fällt ihr das nicht auf, weil sie den Vergleich mit der Erde nicht aus eigener Anschauung kennt, und so nicht weiß, daß ein Erdbewohner auf Balmer's Planet auch bei hochstehender Sonne ständig an Abendstimmung erinnert werden würde.

Die Empfänger des Duocopters sind schwer gestört - so als ob rundherum elektrische Entladungen nur so vom Himmel herunter knattern. Sabine muß nachdenken, und dazu braucht sie Ruhe. Sie sucht einen Landeplatz.

Nur wenige Minuten später steht sie auf den Resten eines Erdrutsches, der einen verschwiegenen See halb zugeschüttet hat. Das muß erst einige Jahre her gewesen sein, und so ist die frische Landzunge noch nicht von Bäumen bewachsen. Das macht die Landung einfacher. Leider kann sie von hier aus weder den Turm noch die Parson's Range sehen, aber die Verbindung zum Turm wird automatisch über die Wettersatelliten geschaltet - da ändert sich nichts.

Raus aus der Kiste - die Trommelfelle wieder in Null-Lage zurückrutschen lassen. Die Stille ist köstlich. Einen Moment lang zwingt sie sich, auf die Stimmen des Waldes zu lauschen, auf die Vögel, die nach einer Minute des Schreckens durch die Ankuft des Duocopters ihre Stimmen wiederfinden. Vielleicht sollte man öfter einen Tag in Freien verbringen. Wandern. Schwimmen. In der Sonne liegen. Einfach nur faulenzen. Sie hat doch den ganzen Planeten für sich alleine.

Also, der Augenschein sagt: Kein Gewitter. Genau hier, wo das Zentrum sein sollte. Noch mehr Gewißheit kann sie sich nicht verschaffen. Das heißt aber auch: Das Problem liegt irgendwo in ihren Geräten.

Zurück in die Kanzel. Überlegen. Sowohl auf dem Turm als auch hier draußen werden ihr nichtvorhandene elektromagnetische Störungen vorgemacht. Wenn man mal annimmt, daß das alles nur eine Ursache hat, dann sollte diese Ursache im Turm liegen. Wie schaut das denn aus? Ihre Spektrumsanalysatoren an Bord und die zugehörigen Empfänger werten aus und übertragen an den Turm. Dort stellt der Zentralrechner die Gesamtlage zusammen und überträgt die Daten, die Sabine angefordert hat, zurück an den Duocopter. Für die Daten, die sie hier vor Ort aufgenommen hat, ist das zweifellos ein überflüssiger Umweg. Das muß untersucht werden. Sabine stellt den Bordrechner des Duocopters mit allen seinen Empfangseinrichtungen auf autonomen Betrieb.

Die elektrischen Störungen rundherum sind von einem Moment zum anderen verschwunden!

Haben wir es schon, sagt sie sich. Irgendeine Instanz auf dem Turm selber spielt ihr nichtexistierende Gewitter vor. Dieser Flug wäre also gar nicht nötig gewesen - aber jetzt wird es nötig sein, die Fehlerquelle einzukreisen. Wenn irgend etwas mit der Auswertungssoftware nicht stimmt, dann wird sie den Fehler nicht beheben können - die restlichen 16 Monate ihres Dienstes hier wird sie dann improvisieren müssen.

Der nächste Schritt. Remote-Login in den zentralen Turmrechner. Es wird sofort ein Paßwort angefordert - ja, natürlich: Sie hat ja eben von sich aus alle Verbindungen zu Turm unterbrochen. Da könnte jetzt ja jeder kommen und einen Verbindungsaufbau fordern. Das ist schon in Ordnung, diese Sicherheitsmaßnahme. Nur: Das Paßwort - sie kann sich nicht mehr erinnern. Als sie vor acht Monaten ihren Dienst antrat, hat sie alle Zugänge zu allen Rechnern aktiviert und so gelassen. Acht Monate sind lang genug, um ein Paßwort zu vergessen.

Also muß sie zurück zum Turm. Als sie die Rotoren für einen normalen Start wieder anfahren will, wird ihr schon wieder das Paßwort abverlangt. Sie überlegt einen Moment: Klar. Der Bordrechner, der die Pilotin beim Flug unterstützt und so zum Beispiel Turbulenzen viel besser ausgleichen kann als jeder menschliche Pilot das tun könnte, hat sich vom Turmrechner die Wetterlage geben lassen wollen - könnte sich ja in den letzten Minuten geändert haben. Und ohne Paßwort rückt der Turmrechner keine Informationen heraus.

Sabine schaltet die Wetter-Aktualisierungsoption des Rechners ab. Dann geht es endlich. Wenige Sekunden später schraubt sich der Duocopter dröhnend in den Himmel. Noch ein paar Sekunden später ist sie über die umliegenden Bergketten hinaus. Im selben Moment blinken rote Schriften auf einigen Bildschirmen auf, und eine Alarmsirene schrillt:

Der Duocopter erhält eine Identifizierungsanforderung vom Turm - gleichzeitig wird er von einem Feuerleitradar erfaßt. Sabine greift in die Steuerung ein. "Boshje moj." knurrt sie, und noch ein paar unhöfliche Sachen mehr. Ein waghalsiger Halblooping, um wieder tiefer als die umliegenden Bergrücken zu kommen. Nur Sekunden später landet sie wieder auf dem Platz, den sie gerade eben verlassen hat.

Das hat sie wirklich vergessen: Ihre Wetterstation kann ja auch beißen, wenn es sein muß. Und da sie die Verbindung zum Turmrechner unterbrochen hat, hat der Turmrechner ihren Duocopter als unbekanntes Flugobjekt identifiziert und entsprechend seinen Vorgaben reagiert.

Ihr Puls geht hoch. Allmählich wird ihr klar, wie knapp das eben war. Auch der Duocopter kann von sich aus reagieren, wenn der menschliche Pilot nicht schnell genug handeln kann. Könnte es sein, daß ihr eigenes Fluggerät eben dicht davor war, eine von den Luft-Luft-Raketen präventiv zurückzuschießen? Könnte es sein, daß sie dem Schicksal, ihre restlichen 16 Monate auf Balmer's Planet in einem Notzelt zu verbringen, gerade eben mit knapper Not entgangen ist?

'So einen Schwachsinn können sich nur Männer ausdenken.' denkt sie. Dieses ganze überflüssige, militärische Procedere. Was macht sie überhaupt hier, auf diesem Planeten, wenn der Turm von sich aus, ganz alleine, militärische Präsenz demonstrieren kann? Es geht schon etwas an das Selbstbewußtsein, wenn man nur als ziviler Vorwand für eine eigentlich militärische Aufgabenstellung benutzt wird.

Dann kommt ihr ein anderer, beunruhigender Gedanke: Der Turm weiß, daß sich hier ein vermutlich gelandetes, unbekanntes Flugobjekt aufhält. Er weiß auch, daß es hier einen eigenen Duocopter gibt, zu dem er die Verbindung verloren hat. Sie kennt die zuständige Software nicht - wird dort der richtige Schluß gezogen, daß es sich bei beiden um ein und dasselbe Objekt handelt? Oder vermutet der Turmrechner Feindeinwirkung? Dann wird er etwas unternehmen. Vielleicht sollte sie aussteigen und sich eine Weile auf der anderen Seite des Sees aufhalten - einen Duocopter hat der Turm noch, und der kann auch sehr gut ferngesteuert operieren.

Wenn sie bloß etwas mehr über die nicht-meteorologischen Einrichtungen des Turmes wüßte - das hat sie nie so richtig interessiert. Irgendwo in der Nähe des Turmes stehen die Silos mit den Boden-Luft-Raketen. Man vergißt im Laufe der Zeit, daß sie da sind. Aber man sollte sich nicht darauf verlassen, daß sie verrostet sind und nicht mehr funktionieren.

Also: Sie muß hier weg, schon wegen des anderen Duocopters. Der Gedanke, ihre Maschine zu verlassen, ist ihr unangenehm. Also wegfliegen. Und sie muß sich in den Tälern halten, wegen der SAMs - besser ist besser. Zurück zum Turm, um dann dort die Sache wieder in Ordnung zu bringen.

Sie will sich die Karten für die nähere Umgebung auf den Bildschirm holen - aber da will der Rechner schon wieder das Paßwort haben. Die geographischen Details hat sie nicht gebraucht, als sie in großer Höhe hierhergeflogen ist. Die sind also im Bordrechner nicht gespeichert, der sie deshalb vom Turm anfordern will. Also gut - fliegen wir nach Ortssinn, denkt sie sich. Kann ja so schwer nicht sein. Sie weiß, daß sie sechzig Kilometer südlich vom Turm ist. Sie kennt auch die genauen geographischen Koordinaten des Turmes, und schließlich ermöglicht die Satelliten-Navigation, die Position des Duocopters auf den Meter genau zu bestimmen. Sie braucht sie nur anzuschalten.

Schon wieder das Paßwort. Natürlich: Wie kommt die Navigationsunterstützung der Flotte dazu, irgendjemandem, der sich nicht identifizieren kann, bei der Navigation zu assistieren? Also keine Satelliten-Navigation - nur Ortssinn.

Kurz darauf ist sie unterwegs. Und es ist nicht mehr das reine Vergnügen. In diesen Tälern kann man nicht einfach geradeausfliegen. Und sehr schnell merkt sie, daß es mit ihrem Ortssinn nicht soweit her ist - wenn man sich nicht oft auf diese Weise fortbewegt, dann ist es sehr schwer, zu sagen, ob man seit der letzten Flußbiegung drei oder sieben Kilometer zurückgelegt hat, besonders, wenn man auch noch mit der Steuerung des Duocopters zu kämpfen hat - der Föhnwind verursacht ärgerliche Leewellen. Da wäre zwar die Trägheitsnavigationseinrichtung, über die der Bordrechner verfügen kann, ohne sich an den Turm zu wenden. Aber die muß man initialisieren. Hat sie nicht gemacht. Und erst jetzt kommt sie auf die Idee, daß auch geschätzte Daten für die Initialisierung der Trägheitsnavigation sehr nützlich gewesen wären.

Als sie das dritte Mal eine Lichtung überfliegt, die ihr entfernt bekannt vorkommt, beschließt sie, über die umgebenden Bergrücken aufzusteigen, um sich zu orientieren. Das nervenaufreibende Alarmgeheul scheucht sie gleich wieder in das Tal zurück, aber mit einem Blick hat sie gesehen, daß der Turm nur in etwa 8 Kilometern Entfernung im Nordwesten zu sehen ist. So schlecht ist ihr Ortssinn also gar nicht.

Auch den weiteren Kurs bis in ein Tal in direkter Nachbarschaft zu dem Berg, auf dem der Turm steht, glaubt sie, in etwa erfaßt zu haben. Verfliegen kann sie sich nicht mehr. Aber eigentlich sollte man das Geräusch eines verdeckt fliegenden Duocopters über 8 Kilometern Entfernung hören können - Sabine hat nicht die geringste Ahnung, ob akustische Informationen für die Steuerung von Boden-Luft-Raketen ausgewertet werden. Und wie gut diese überhaupt steuern können. Ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, jetzt, während sie sich über den Baumwipfeln weiter an ihren Turm heranpirscht.

Dann kurvt sie über eine langgestreckte Sumpflichtung ein, und am Ende dieses Tales kommt der Turm in Sicht. Eine alte Geschichte kommt ihr in den Sinn: "Vom Turm, der herrschend ragt und droht, schaut riesenhaft herab - der Tod." Sie weiß nicht, woher das kommt.

Der Alarm schrillt nicht.

Hat der Turmrechner einen Anflug von Einsicht? Es wäre Sabine lieb, wenn sie das jetzt wüßte - dann bräuchte sie nur den Berg anzufliegen und zwischen den offenstehenden Hangarklappen zu landen, und schon wäre sie zu Hause. Oder ist die Luftraumüberwachung vom Turm aus unter der Horizontlinie gestört?

Einer plötzlichen Eingebung folgend wirft sie einem Blick über die Schulter nach hinten. "Schto takoje Gawno!" flucht sie - der andere Duocopter ist ein paar hundert Meter hinter ihr. Wie lange schon? Und warum hat er sein Feuerleitradar nicht eingeschaltet? Kann die Maschine etwa wissen, daß Menschen einen eingeschränktes Gesichtsfeld haben? Daß sie in dem Gedröhn der eigenen Rotoren einen Verfolger nicht hören kann?

Sie läßt die Aggregate hochjaulen, drückt die Maschine nach oben. Der andere hinterher. Sie hat kaum eine Chance, sie weiß es: Ein unbemannter Duocopter kann wesentlich heftigere Flugmanöver durchführen als sie selbst. Und sie hat sowieso keinerlei Erfahrung in diesen Dingen! Verdammt noch mal, sie ist hierhergekommen, um die Biographie harmloser Tiefdruckgebiete zu verfolgen, und nicht, um Luftkampf zu üben! Welche Chance kann ein Mädchen haben, das sich sogar in der Grundausbildung von all dem militärischen Kram ferngehalten hat?

Immer noch kein Feuerleitradar, weder von den SAM-Stellungen des Turmes noch von dem anderen Duocopter. Wollen die ihre Raketen rein optisch ins Ziel bringen? Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sabine, tu was! Was völlig Unerwartetes! Etwas, was die Programmierer der Abwehrsoftware keinesfalls vorausgesehen haben!

Sie steuert den Turm an, bringt sich damit zwischen diesen und den anderen Duocopter. Dann fliegt sie geradewegs auf den Turm zu.

Sie wird nicht beschossen. Kein Feuerleitradar erfaßt sie.

Großartig. Aber keine Lösung auf Dauer. Sie kann sich nicht ewig auf der Verbindungslinie Turm - anderer Duocopter halten.

Sie hat eine Wahnsinnsidee. Der obere Antennendom hat eine waagerechte Oberfläche, etwa 12 Meter im Durchmesser, 84 Meter über Grund, wie sie weiß. Könnte klappen. Für diesen Landeplatz ist es ein bißchen windig, aber wenn sie die Rotoren rasch genug runterfährt? Kann der Dom überhaupt das Gewicht des Duocopters halten? Das Material des Antennendoms ist schließlich auf elektromagnetische Durchlässigkeit hin optimiert, und nicht als Landefeldunterlage.

Weder die SAM-Stellungen noch der andere Duocopter werden auf den Turm schießen! Sie macht sich jetzt aber keine Gedanken darüber, wie das elektronische oder algorithmische Äquivalent zu 'Verblüffung' oder 'Vergackeierung' aussieht, sondern konzentriert sich auf diesen Anflug. Auch eine 12 Meter durchmessende Fläche erscheint einem schmal wie ein Taschentuch, wenn man mit einem Duocopter drauf landen muß, besonders, wenn es nach allen Seiten steil hinunter geht.

Kaum, daß sie sicher steht, springt sie auf, wirbelt auf die Frontluke zu, reißt sie auf. Schon steht sie auf sicherem Boden.

Der Duocopter, um ihr Gewicht erleichtert, hebt wieder ab. Sie hat in der Eile vergessen, die Rotoren runterzufahren!

Sie schmeißt sich hin, damit der Luftstrom sie nicht von der Plattform in die Tiefe fegt. Dann kann sie nur noch zusehen.

Ihr steuerloser Duocoper treibt nach Norden ab, entfernt sich immer weiter vom Turm, gewinnt an Höhe. Jeder Laie könnte nun sehen, daß dieses Fluggerät irgendwelche Probleme mit der Steuerung haben muß.

Nicht so der andere Duocopter, der südlich von ihr ebenfalls an Höhe gewinnt. Er bringt sich in Schußposition. Dann muß er wohl sein Feuerleitradar eingeschaltet haben, was den Bordrechner ihres eigenen Duocopters sofort veranlaßt, von sich aus in die Steuerung der Maschine einzugreifen.

Sabine kann es nicht fassen - es ist wie ein gespenstisches Ballett - die eine Maschine steht südlich von ihr, einige hundert Meter entfernt, die andere nördlich, ebenfalls einige hundert Meter entfernt. Beide haben ihre Luft-Luft-Raketen aufeinander gerichtet. Beide tauschen jetzt vermutlich komplexe Freund-Feind-Erkennungsprotokolle aus. Das muß eigentlich sehr schnell und ganz automatisch klappen. Aber es hat ja schon einmal nicht geklappt. Einer der Duocopter verfügt nicht über eine Verbindung zum Turmrechner. Das ist wohl der ganz wesentliche Unterschied.

Und doch dauert es viele Sekunden, bis die Entscheidung gefallen ist. Man kann nicht sehen, wer zuerst schießt. Die Antwort ist so schnell, daß Sabine einen Moment befürchtet, die Raketen könnten sich genau über ihr treffen. Sie preßt die Hände vor die Ohren.

Beide Maschinen verschwinden in einem gemeinsamen Donnerschlag. Wie eine Tracht Prügel fallen die Druckwellen beider Explosionen gleichzeitig über sie her. Eine ganze Minute noch bleibt sie liegen, immer in der Erwartung, daß noch irgendein scharfkantiges, brennendes Metalltrümmerstück auf sie niederstürzt. Dann, als die Stille schon ein Dutzend Sekunden angehalten hat, blickt sie sich um.

Der Südwind ist bereits dabei, die Rauchsterne der beiden Explosionen zu verwirbeln und zu vertreiben. Abgestürzte Trümmerstücke haben offenbar weder am Turm noch im Wald rundherum wesentlichen, sichtbaren Schaden angerichtet. Über die Kante der Plattform hinweg sieht sie, daß die Betonklappen der beiden Hangars sich schließen - der Turmrechner hat festgestellt, daß mit der Rückkehr der beiden Duocopter in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Sie steht auf. Ihre Knie sind weich, ihre Fliegerkombination ist durchgeschwitzt - schlimmer, sie hat gepißt. Egal - entschuldbar, unter diesen Umständen. Unten im Turm warten ihre Waschmaschinen auf sie.

Wie kommt sie jetzt hinunter?

Es gibt eine einzige Luke hier oben in dieser Plattform. Die kann nur von innen geöffnet und geschlossen werden. Im Moment ist sie zu. Sabine wird klar, daß das Abenteuer noch lange nicht zu Ende ist. Bis zur Plattform auf der Oberseite des mittleren Antennendoms sind es 36 Meter. Sie läßt sich nieder, kriecht zum Rand, sieht runter: Es gibt sechs Blitzableiterleitungen. Stabile, 22 Millimeter durchmessende Kabel, in regelmäßigen Abständen an der Außenwand des Domes befestigt. Die würden schon halten - aber kann sie selbst sich daran festhalten?

Und die Luke, unten auf dem mittleren Dom, die ist doch auch zu, oder? Die hat sie doch vorhin erst sorgfältig zugemacht?

Die Sonne steht tief. Sie kann nicht ewig nachdenken. Der Föhnsturm *kann* über Nacht an Stärke gewinnen. Wenn sie einschläft, kann sie sich nicht festhalten. Sie *muß* jetzt runter. Und da sie sich nicht durch das Material des Domes hindurchbeißen kann, bleibt nur eine Lösung: Der Blitzableiter. Sie schickt sich in das Unvermeidliche.

Später wird sie sich kaum daran erinnern können, wie sich sich über die Kante schiebt und in das starke Kabel greift. Sie sieht die Aussicht nicht, nicht die Waldberge rundherum und nicht den mittleren Antennendom 36 Meter unter ihr. Biceps und Lats schmerzen ob der ungewohnten Belastung, aber sie werden 'negativ' betrieben - in das Kabel greifen, sich weiter runterlassen. Es dauert gar nicht mal so lange, weil man auf diese Weise 10 Zentimeter pro Sekunde nach unten kommen kann. Vielleicht mehr, wenn man geübt ist, aber Sabine ist nicht geübt. Sie ist übergewichtig, und zum ersten mal in ihrem Leben spürt sie jedes Gramm.

Nur zehn Minuten später steht sie auf dem mittleren Dom. Sie hat es schon erwartet, aber die Enttäuschung trifft sie hart: Natürlich hat sie das Luk vorhin, vor ihrem Flug, sorgfältig zugemacht.

Sie muß noch weiter runter.

Der Blitzableiter bleibt ihr treu, folgt dem Turm in seiner ganzen Höhe. Aber der Oberseite dieses ausladenden, mittleren Antennendoms entspricht, drei Stockwerke tiefer, die Unterseite. Da wird sie hängen müssen. 36 Meter über Grund. Auf der Unterseite dieses Teils des Antennendoms gibt es Luken, die nur vermöge ihres Eigengewichtes geschlossen sind. Die sind auch von einigen der Blitzableiter zu erreichen - Sabine weiß nur nicht, von welchen. Und selbst wenn sie es wüßte - aus der Position, so hängend und sich am Blitzableiter entlang hangelnd, könnte sie diese Luken niemals öffnen. Sie muß bis zum Turmschaft, und dann runter, bis zum Waldboden. Ein Fenster eintreten geht auch nicht, denn diese sind alle aus bestem Material.

Es wird dunkel, als sie es geschafft hat. Sie sieht den Turm an, als sähe sie ihn zum ersten Male. Dann läßt sie sich da fallen, wo sie steht, schläft bis zum Morgen durch. Und im Schlaf hängt sie wieder an diesem Blitzableiter, zwischen Himmel und Erde, und alle ihre Lieben sind so verdammt weit weg, und diesen Wäldern rundherum ist auch egal, ob sie sich festhalten kann oder losläßt.

Auf Balmer's Planet kann ein Mensch ungefährdet im Freien schlafen. Sabine wacht im Morgengrauen auf. Tausend blaue Flecken, kalter Schweiß und Pisse in den Klamotten, Dreck überall. Hungrig. Ein Jahresgehalt für einen Kaffee. Sie lebt, aber sie wird noch einige Zeit brauchen, bis sie es glaubt.

Sie geht die 200 Meter durch den Wald zum Hangar. Dort gibt es einen Service-Eingang, den man von außen öffnen kann - wo immer die Logik dabei zu suchen sein mag. Durch den unterirdischen Gang gelangt sie zurück in den Turm.

Dusche. Eisschrank. Kaffee. Als der vertraute Duft die Räume durchzieht, sieht sie über den Bergen im Osten die Sonne aufgehen. Noch bevor die Tasse leer ist, sitzt sie an einer der Konsolen. Sie hat da so einen Verdacht.

Stunden später weiß sie Bescheid. Ihr Verdacht war richtig. Es sind trojanische Pferde in das Rechnersystem eingeschleust worden, die nach Ablauf einer gewissen Zeit aktiviert werden. Diese Programme sollen schwer erklärbare Vorkommnisse, wie zum Beispiel nichtexistierende Gewitter, simulieren, so daß die Mitarbeiter auf diesen einsamen Außenstationen ab und zu eine harte Nuß zu knacken haben. 'Remote intelectual engineering' lautet der Fachausdruck der Flotte dazu. 'Verarschen' wäre die präzisere Bezeichnung, denkt Sabine. Zwei Duocopter zum Teufel. Wie soll sie das erklären?

Was solls. Wer braucht schon eine Super-Karriere? Sie lebt. Das ist wichtig. Und sie hat abgenommen. Das ist auch wichtig.


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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Copyright © 1999 und alle Rechte verbleiben beim Heise-Verlag. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.


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