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Josella Simone Playton


Herrn Doktor Ackermann

Vorstand der Skytrans AG

Sehr geehrter Herr Doktor Ackermann,

Gestatten Sie, daß ich anonym bleibe. Ich riskiere meinen Job, wenn herauskommt, daß gerade ich Sie auf die wahren Gründe der sieben letzten Flugzeugentführungen hinweise. Nichtdestoweniger halte ich es im Interesse der Allgemeinheit für erforderlich, Sie über einige Gesichtspunkte dieser kurz zurückliegenden Ereignisse zu informieren.

Es ist nicht so sehr die Häufigkeit der Entführungen, die die Öffentlichkeit beschäftigt, sondern die Tatsache, daß erstens immer der gleiche Flugzeugtyp involviert war: der SHUTTLE 900-NNS. Zweitens hat nie jemand einen der Entführer zu Gesicht bekommen. Nicht nur das, auch wurden nie Lösegeldforderungen oder politische Hintergründe bekannt. Sie wissen so gut wie ich, daß gerade dieser Tatbestand die Öffentlichkeit besonders beschäftigt hat.

Der Schluß, der daraus gezogen wurde, sowohl in der Öffentlichkeit als auch, da bin ich sicher, im Vorstand der Skytrans AG, war, daß es sich um ungewöhnlich raffinierte Entführer gehandelt haben müsse. (Das Bundeskriminalamt beschäftigt inzwischen eine ganze Abteilung damit, herauszubekommen, was die Entführer eigentlich erreichen wollten.)

Es wurde sogar schon öffentlich die Vermutung formuliert, daß durch eine massive Entführungsaktivität gerade bezüglich diesen Flugzeugtypes eine Verknappung des SHUTTLE 900-NNS verursacht werden und so der Preis desselben soweit in die Höhe geschraubt werden soll, daß ein Verkauf der Maschine ohne Subventionierung und ohne Mithilfe bayrischer Ministerpräsidenten möglich ist.

Dieser Schluß ist, wie viele andere, falsch. Richtig ist vielmehr, daß es nie, zu keiner Zeit, Entführer gegeben hat. Der Grund für die Entführungen ist vielmehr der frühe Einbruch des Winters.

Wie Sie wissen, verfügt der SHUTTLE 900-NNS über eines der rafiniertesten elektronischen Navigationssysteme, das je geschaffen wurde. Es ist praktisch kein Flugmanöver denkbar, das durch das Eingreifen eines Piloten noch zu verbessern wäre. Diese Behauptung wurde zwar in der Öffentlichkeit wiederholt kontrovers diskutiert, aber ich als Mitarbeiter der Herstellerfirma kann dieses in vollem Umfange bestätigen. Das Navigationssystem ist perfekt, wenn überhaupt etwas von Menschen Geschaffenes diese Bezeichnung verdient.

Eine der spektakulärsten Neuerungen war das NNS, das Neuronale Navigations System. Die Intention war, eine dem Zugvogel eigene Navigationsfähigkeit zu schaffen, die nicht so sehr durch Genauigkeit, sondern ganz besonders durch Fehlertoleranz überzeugen sollte. Tests des Herstellers zeigten damals, daß durch starke Gamma-Bestrahlung über 80 Prozent aller aktiven Schaltelemente zerstört werden konnten, bevor das System begann, Unsicherheit zu zeigen. Das ist ein enormer Fortschritt, wenn Sie daran denken, daß in einem normalen Computer unter Umständen bereits der Ausfall eines einzigen aktiven Schaltelementes das Gerät unbrauchbar machen kann.

Gerade auch in der Zivilluftfahrt war diese Fähigkeit willkommen. Nicht nur die globale Navigation profitierte von diesem Verfahren, sondern besonders die lokale Navigation in beengten geometrischen Verhältnissen erlebte einen Quantensprung des Leistungsvermögens. Selbst in den frequentiertesten Anflugschneisen der größten internationalen Flughäfen bleibt bei dem SHUTTLE 900-NNS weder für den Piloten noch für den Fluglotsen etwas zu tun übrig.

Es ist in der Öffentlichkeit der immense Aufwand der Programmierung des NNS diskutiert worden. Dieses ist eine der Tatsachen, deren Darstellung ungenau ist, um das unschöne Wort Unsinn zu vermeiden. Der Hersteller des SHUTTLE 900-NNS wird zwar seit Jahrzehnten massiv von der Bundesrepublik gesponsort, die Programmierung eines derart komplexen NNS hätte jedoch jenseits seiner personellen und damit finanziellen Möglichkeiten gelegen. Das NNS wurde nicht programmiert. Es wurde kopiert.

Obwohl unter Fachleuten längst der prinzipielle Unterschied zwischen einem Computer und einem Neuronalen Netz bekannt ist, wirft der 'Mann auf der Straße' beides immer noch in einen Topf. Auch die Einkaufsabteilungen sämtlicher internationalen Luftlinien scheinen weitgehend frei von Fachleuten zu sein, jedenfalls, was die neuesten Forschungsrichtungen der künstlichen Intelligenz betrifft. So hat der Hersteller des SHUTTLE 900-NNS sehr viel unwidersprochenen Blödsinn in seine schönen bunten Prospekte hineinschreiben können, unter anderem das Märchen vom immensen Programmieraufwand am NNS. Die Einkäufer und Entscheider der verschiedensten Luftlinien, wie auch Sie, Herr Doktor Ackermann, sind natürlich darauf reingefallen.

Neuronale Netze werden nicht programmiert. Sie lernen, wie Menschen und Tiere, durch Vormachen und Nachmachen. Es kann allerdings von einem ausgebildeten Neuronalen Netz der gesamte Synapsenzustand auf ein neues kopiert werden, ein Vorgang, der bei heutiger Technologie in einigen Minuten abgeschlossen ist.

Nun ist es nicht gut möglich, ein Flugzeug am Tragflächerl zu nehmen, bildlich gesprochen, und mit ihm Schritt für Schritt alle Navigationsaufgaben zu üben, bis es sie kann. Für eine gute Ausbildung sind Tausende bis Zehntausende von Übungsflügen notwendig, und wenn die geschafft sind, dann fällt das Flugzeug altershalber schon auseinander. So kam der Hersteller auf die Idee, das ganze Verfahren um Größenordnungen abzukürzen:

Es wurde der synaptische Gesamtzustand von Schwalben in mühevoller Arbeit aufgezeichnet und auf das NNS übertragen. Man versprach sich, die instinktive weltweite Navigationsfähigkeit eines Zugvogels auf diese Weise in das NNS zu integrieren. Dieses, Herr Doktor Ackermann, ist die eine, besondere Tatsache, die der Öffentlichkeit und besonders den Luftlinien verschwiegen wurde: Die Flugzeuge des Typs SHUTTLE 900-NNS sind Schwalben mit dem Körper eines Flugzeuges! Wegen dieser Information ist es notwendig, daß ich mich anonym an Sie und an die Öffentlichkeit wende.

Diese Idee, sich die navigatorische Intelligenz von Zugvögeln zu Nutze zu machen, war im Prinzip genial. In der Praxis allerdings zeigte sich, daß verschiedene Features, die einem lebenden Tier zu eigen sind, mühevoll wegprogrammiert werden mußten, Synapse für Synapse.

So fingen in der Erprobungszeit die Flugzeuge an, wenn schon auf dem Rollfeld das NNS eingeschaltet wurde, planlos die Triebwerke anzulassen und hierhin und dorthin zu rollen. Tierpsychologen analysierten die Fahrspuren und fanden heraus, daß es sich um Nestbauversuche handelte.

Andere Reflexe fanden keine sichtbare Entsprechung, da Flugzeuge nicht die entsprechende Hardware besitzen. So ist es zum Beispiel nicht möglich, daß Flugzeuge nach Körnern picken oder mit den Flügeln schlagen. Dafür war es aber notwendig, das NNS nicht mit dem Kontrollsystem für den Laderaum zu koppeln: Es ist vorgekommen, daß die Maschinen, in dem Versuch, Eier zu legen, einfach die Ladeluken geöffnet haben, wodurch bei einigen Probeflügen erheblicher Schaden entstand, da Meßvorrichtungen und teure Computer ausgeworfen wurden. Einige Luken und Ventile sprachen in analoger Weise auf den Defäkations-Reflex an, und der Drang zu urinieren fand seine Entsprechung im spontanen Ablassen des Treibstoffes, was wiederholt zu erheblichen Verschmutzungen verschiedener Rollfelder führte.

Ein anderer Fall führte in der Erprobungsphase zu einem Totalschaden einer Maschine. Während einer frühen Phase eines Startvorganges tauchte ein Hund am Rollfeldrand auf. Er bellte die Maschine an. Diese wurde, unter der Steuerung des NNS, von Panik ergriffen und wich in großem Bogen aus - runter vom Rollfeld und in eine Schrebergartenkolonie hinein. Da steht sie noch heute - die Stadtverwaltung hat einen Spielplatz drumherum gebaut und die äußeren Schäden an der Maschine kosmetisch beseitigt. Sie kennen die Geschichte ja.

Nicht alle Schäden waren so spektakulär. Der Reflex, sich mit den Krallen zu kratzen, führte bei diesen Flugzeugen zu unerwarteten einseitigen Einfahren des Fahrwerkes im Stand, was technisch eigentlich nicht möglich ist. Diese Vorfälle kann man als Demonstration der überlegenen Beherrschung der Hardware dieser Flugzeuge durch das NNS sehen, auch wenn bei diesen Vorfällen die Maschienen im Allgemeinen auf eine Tragfläche fielen und dieselbe so unbrauchbar machten.

Ebenso lernte man rasch, daß das NNS nicht an die Funkgeräte angeschlossen werden durfte. Die Piepserei auf den Luftnotruffrequenzen war der weltweiten Flugsicherheit einfach nicht förderlich. Außerdem stand diese Kommunikation zwischen verschiedenen Flugzeugen des Types SHUTTLE 900-NNS im Verdacht, auch Signale über die Geschlechtszugehörigkeit der Maschinen auszutauschen (für die es ja bei Flugzeugen kein äußeres Merkmal gibt, wenn man von Betankungsmaschinen absieht, für die der SHUTTLE 900-NNS aber nicht eingesetzt wird). Eine mögliche intersexuelle Kommunikation beschwor aber die Gefahr von Kopulationsversuchen - eventuell sogar im Fluge - herauf. Das hätte mit Sicherheit jeweils zu Katastrophen geführt, die wir nur durch Unterbindung dieses Kommunikationsweges ausschließen konnten.

All diese Rudimente des Verhaltens, die für eine Schwalbe ja ganz nützlich sind, mußten erst noch beseitigt werden, und nur hier wurde erheblicher Arbeitsaufwand nötig, vielleicht auch wegen der Geheimhaltung, auf die der Hersteller bestand. Dieses Vorhaben gelang, und das Gesamtsystem wurde damals, unter entsprechender Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, an die ersten Kunden ausgeliefert.

Dieses ist der Punkt, auf den ich hinauswill, Herr Doktor Ackermann: Nur die leicht sichtbaren und schnell erkennbaren Verhaltensrudimente der Schwalbe, die der technischen Navigationsaufgabe nicht förderlich waren, konnten beseitigt werden. Andere mögen in dem Netz noch immer schlummern.

Und dieses ist meine plausible Theorie über die neuesten Entführungen der sieben SHUTTLE 900-NNS Maschinen: Es handelt sich um die Manifestation eines solchen rudimentären Verhaltens. Die Schwalbe ist ein Zugvogel. Der Winter hat verfrüht angefangen. Es paßt eines zum anderen: Die entführten Maschinen sind in Wirklichkeit, ihrem Schwalbeninstinkt folgend, in den Süden geflogen, so wie jeder andere Zugvogel auch.

Diese Information dürfte für Sie interessant sein, und ihre Verbreitung für den Hersteller peinlich. Ich rate Ihnen deshalb dreierlei:

Erstens. Lassen Sie dem Hersteller deutlich werden, daß Sie wissen, warum die Maschinen sich manchmal so merkwürdig verhalten. Es könnte bei neuen Kaufverhandlungen von Nutzen sein.

Zweitens. Schenken Sie Ihren Piloten reinen Wein ein. Menschliche Piloten sind keine Zugvögel und haben nicht derartige Instinkte. Sie können gegebenenfalls die Maschine wieder übernehmen und auf den eigentlichen Kurs zurückbringen. Damit erreichen Sie gleichermaßen, daß die Monotonie für die immer noch mitfliegenden Piloten nicht ganz so unerträglich wird, da sie ja damit rechnen müssen, daß die Maschine eigenwillig wird. Außerdem ist in Zukunft eine tierpsychologische Ausbildung der Piloten nun unerläßlich: Eventuell sollte man daran denken, ein Vetärinärstudium oder eine ähnliche Fachausbildung zur Voraussetzung zur Laufbahn eines Verkehrspiloten zu machen.

Drittens. Seien Sie vorbereitet, daß es im Frühjahr nötig sein könnte, einige Rollfelder und Hallen freizuhalten. Dann kommen die Maschinen nämlich zurück.

Mit freundlichen Grüßen.

P. S.: Sorgen Sie dafür, daß in der Nähe der Landebahnen keine Hunde, Iltise, Marder und Füchse frei herumlaufen können. Ebenso sollte der Luftraum um die Flughäfen herum von heimischen Raubvögeln (Bussarde etc.) freigehalten werden.


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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Copyright © 1999 und alle Rechte verbleiben beim Heise-Verlag. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.


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