Rotvogel


Josella Simone Playton


Susanne rollt sich ab, wie sie es gelernt hat - was so begonnen hat wie ein schwerer Sturz, endet in einer fließenden Bewegung, die sie mit dem Waldboden vereint. Schade, daß niemand es sieht. Lautlos liegt sie im Dreck. Atem flach. Eine trainierte Läuferin kann das - soll der Kreislauf sehen, wie er mit der noch geringen Sauerstoffkonzentration im Blut fertig wird.

Sekunden noch pocht ihr der Puls in den Ohren. Aber auch das legt sich schnell. Nur horchen - sie ist ganz Ohr. Was anders als Ohr kann man sein, wenn man nichts mehr sieht?

Da vorne ist jemand. Sie hat ihn nicht gesehen - aber das schwache Räuspern, vielleicht ein Schleimfetzen in einer fremden Bronchie, unabsichtlich und leise. Aber Susanne kennt die Geräusche des Waldes. Seit frühester Jugend läuft sie. Niemand sonst kann in der Finsternis so durch das Unterholz preschen, ohne sich an zahllosen Zweigen die Augen auszuschlagen.

Wer ist da? Wer hat, um diese Zeit, etwas im Wald zu suchen? Sie horcht, analysiert die Restinformation ihrer Sinnesorgane. Sicht: Nichts. Leuchtende Punkte, Restaktivität im Ozipitallappen. Geräusche: Der Wind in den Zweigen. Sonst nichts.

Der - oder die? - andere weiß, daß sie da ist. Und verhält sich ruhig. Susanne denkt nach.

Entscheidungsbaum. Zufallsbegegnung? Oder hat jemand auf sie gewartet? Oh, sie weiß, wie sie auf Männer wirkt. Zwar ist in ihrer näheren Bekanntschaft niemand, dem sie diese Kombination von männlicher Arroganz, Agression und Geilheit zutraut. Aber es gibt diese Leute, die sich mit Gewalt holen, was sie anders nicht bekommen. Sie weiß das. Eine einsame Läuferin im Wald muß damit rechnen. Warum wohl fühlt sie sich am sichersten, wenn sie wie ein lautloser Schatten über den Nachtboden streift? Wie ein Wiedergänger? Wieviele zehntausend Kilometer hat sie schon hinter sich gebracht, und nie ist etwas passiert. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht Null - also muß es irgendwann passieren.

Also: Zufall oder Interception? Wer weiß, daß sie gerade hier, gerade jetzt, zu dieser Zeit, ihr Training absolviert?

Die Wahl ihres Weges ist zufällig gewesen - auch heute nacht. Aber schon vor langer Zeit ist ihr die Schwachstelle aufgefallen. Sie selber hat eine Spur gelegt.

Sie führt Buch über ihre Trainingsläufe. Kilometer und Zeit. Jeder einzelne Lauf. Erst auf Papier, später auf einem PC. Sie hat ein dummes Programm gemacht. Zunächst hat das nur die Kilometer zusammengezählt und eine Ergebnisliste in eine Datei geschrieben. Wieviele Kilometer insgesamt, wieviele jeden Monat, wie sieht es mit den Durchschnittsgeschwindigkeiten aus? Später kam die graphische Aufbereitung hinzu. Sie kann jetzt sehen, wie sie im Winter durch Tiefschnee gebremst wird, und in gewissen Sommermonaten durch Ozon. Sie kann eine Fourieranalyse über alle gemessenen Geschwindigkeiten über die letzten 26 Jahre starten und jede periodische Störung ermitteln. Mit dem bloßen Auge sieht man es nicht, aber da ist ein periodisches Signal mit einer Länge von 26.47 Tagen und eines mit einer Periode von genau 9 Tagen. Das eine ist ihr Menstruationszyklus, für das andere hat sie nie eine Erklärung gefunden.

Sie hat das Programm immer wieder modifiziert. Immer neue Funktionalität. Inzwischen wird auch eine Statistik über die von ihr gewählten Wege geführt. Und das ist die Schwachstelle. So zufällig, wie sie mal glaubte, wählt sie ihren Weg nicht aus. Allerdings sind die Abhängigkeiten komplizierter als durch die reine körperliche Leistung bedingt. Das hängt von der Tageszeit, von der Jahreszeit und vom Wetter ab. Bodenzustand. Streßlevel im Beruf. Alles mögliche. Mit Sicherheit kann niemand voraussagen, wo sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sein wird. Aber die Wahrscheinlichkeitsverteilungen kann man auswerten.

Wenn jemand sie hier, nachts, ohne Zeugen, abfangen will, dann wären diese Daten hilfreich.

Aber so ensteht Paranoia. Verfolgungswahn. Wer sollte das tun? Wer sollte auf die Idee kommen, daß die Analyse ihrer Laufdaten Hinweise auf ihren Aufenthaltsort geben kann? Ihr selbst ist diese Schwachstelle ja erst aufgefallen, nachdem sie jahrelang dieses Programm verwendet hat, nachdem ihre Läufe sich zu einer ersten Erdball-Umrundung aufsummiert haben. Und sie hat es nie jemandem erzählt.

Da ist eigentlich die Zufallsbegegnung schon wahrscheinlicher. Ein Förster, ein später Wanderer. Vielleicht hat er genausoviel Angst wie sie. Hat gehört, wie etwas auf ihn zuraste und sich dann, plötzlich, wenige Meter von ihm entfernt, in Luft aufgelöst hat.

Naja, Angst hat sie nicht gerade. Auch sie hat ihre Agressionen, die sie mit dem Laufen abreagiert. Sie kennt sich selbst gut genug: Ein gegen sie vorgetragener Angriff würde in ihr genügend Agressionen erwecken, um sie in die Lage zu versetzen, sich kompromißlos zu verteidigen. Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen, sagt sie sich immer. Ihre Karten sind gut. Auch mit vierzig sind ihre Bewegungen immer noch präzise wie die einer Raubkatze. Mit ihrer internistischen Grundausbildung kennt sie alle Schwachstellen des menschlichen Körpers. Und ihre Phantasien sind manchmal entsprechend: Sie kann sich vorstellen, einen Kehlkopf durchzubeißen - wenn es denn unbedingt sein muß.

Ob sie unbewußt darauf wartet, einmal in eine so verzweifelte Situation zu kommen, um das tun zu müssen?

Sie hat noch andere Optionen. Weglaufen. Genau das könnte sie jetzt tun. Entweder sie wird gar nicht verfolgt. Oder der Verfolger benutzt eine Lampe und blendet sich selbst damit so, daß er sie sowieso nicht verfolgen kann. Oder er setzt ihr im Dunkeln nach - das aber kann außer ihr niemand. Und wenn die Sichtverhältnisse besser wären, dann hätte sie immer noch gute Chancen, einfach den fremdem Kreislauf zu überlasten. Auch so kann man töten - und kein Staatsanwalt kommt dahinter.

Nein, Angst hat sie nicht. Sie ist sicher. In der Dunkelheit einsgeworden mit dem Waldboden, unsichtbar, unhörbar. Was für ein Abstand der Existenz! Tagsüber die kompetente und attraktive Sachbearbeiterin, die jeden Tag in der Firma ihre Frau steht, und in der Nacht die Kampfmaschine, jedem Gegner überlegen.

Wenn es überhaupt ein Gegner ist.

Aber sie will einen Gegner haben. Sie muß sich das zugeben - sie ist gewohnt, sich selbst zu analysieren. Manchmal muß sie einstecken - jeder, der einem Job nachgeht, muß das ab und zu. Bestimmte Kollegen und Vorgesetzte sind wohl nur geschaffen worden, damit dem Wort 'Borniertheit' eine Implementation zukommt. Wie oft möchte man dreinschlagen, weil Rationalität und Sachlichkeit sich irgendwie nicht so besonders gut auf den Y-Chromosomen gehalten hat. Hier könnte sie es - wenn sie Grund dazu hätte.

Als Kind hat sie oft gerauft.

Sie robbt nach vorne. Das kann sie besser als jeder Rekrut. Auch jetzt hört man nichts. Warum ist der andere immer noch still?

Vielleicht ist sie in eine übende Wehrsportgruppe hineingelaufen? Eigentlich glaubt sie das nicht: Diese Nachwuchs-Herrenmenschen mögen vielleicht militaristisch sein - aber die Reichskriegsflagge gröllend durch die Wälder zu schleppen garantiert noch lange nicht die geringste militärische Kompetenz. Das sind spätpubertäre Geländespiele - solche Leute hätte sie schon längst gehört. Sogar über die Geräusche, die sie selbst beim Laufen macht, hinweg. Nein, der, der da im Dunklen steht, ist professionell. Atmet genauso flach wie sie selbst. Das Bronchienrasseln von vorhin, das Räuspern, war ein Versehen.

Oder eine akustische Täuschung. Noch hat sie keinen weiteren Hinweis erhalten, daß sie wirklich nicht alleine ist.

Denk nach, Susanne! Wer hat Einblick in deine Dateien? Wer könnte Rückschlüsse gezogen haben? Und gibt es einen anderen Grund, gegen sie vorzugehen? Nicht jeder Angriff gegen eine Frau ist eine Vergewaltigung - vielleicht will sie wirklich jemand beseitigen?

Ihr fällt kein Grund dazu ein. Das kommt davon, wenn man eine zu unauffällige Durchschnittsexistenz führt. Sie ist niemandem im Wege, sie kennt keine Geheimnisse, sie kommt - meistens - mit allen gut aus. Sie ist eigentlich gar nicht konfliktfreudig. Nicht sehr. Naja, den Virus, den sie mal geschrieben hat, und der noch in der Rechnern ihres Arbeitgebers schlummert, das war eine Präventivmaßnahme. Für den Fall, daß man sich einmal nicht 'in bestem Einvernehmen' von ihr trennen möchte. Das ist nicht Konfliktfreudigkeit. Genauso wenig, wie die Viren, die sie auf ihren eigenem PC hält - auch die sind nur dazu da, Eindringlinge abzuschrecken. Kluge Vorsichtsmaßnahme, weiter nichts.

Auch deshalb kann sie nicht glauben, daß irgendjemand über ihre Lauf-Daten ihren Aufenthaltsort ermittelt hat.

Was hat sie sich alles einfallen lassen, um Eindringlinge in ihren Rechner irrezuführen! Da sind zum Beispiel Listen von Konten und Vermögenswerten, die gar nicht existieren. Spezielle Edition für das Finanzamt - sollten die bei einer Betriebsprüfung darauf stoßen, werden sie die Lust verlieren, bevor sie zu den wirklich relevanten Daten gelangen. Ach, und die verschlüsselten Dateien! Wenn sich doch nur mal jemand die Mühe machte, diese zu knacken, um dann lediglich festzustellen, daß es sich tatsächlich nur um Zufallszahlen handelt!

Konfliktfreudig - naja. Ein bißchen doch schon. In einer Welt voll maskuliner Überheblichkeit muß man das sein. Susanne hat einen Grundsatz: Niemals als erste angreifen, bloßstellen, lächerlich machen, demontieren, kaltstellen. Nicht als erste. Fairness so lange wie möglich. Aber die andere Wange hinhalten - ne.

Bereit sein zum Zweitschlag. Jederzeit.

Gut. Agressionsphantasien helfen ihr jetzt nicht. Sie muß herausfinden, ob da jemand ist, wer es ist, und warum. Und sie möchte aus der Angelegenheit ohne Kratzer herauskommen. Ohne eigene Kratzer, versteht sich.

Sie schiebt sich weiter vor. Hier, am Rand der Forststraße, kann sie den Himmel sehen. Neumondnacht und Wolkenschicht. Noch dunkler kann man es in Mitteleuropa nicht haben. Aber das ist nie ganz dunkel. Gegen den Himmel würde sie eine Gestalt erkennen können. Gegen den Hintergrund des Waldes selbst nicht. Allerdings müßte sie dazu sehr nahe an den anderen heran, und der andere müßte stehengeblieben sein.

Komisch, wie es ihr in den Lenden zieht. Merkwürdige Nebenwirkungen des Adrenalins. Bevorstehende Kampfhandlungen erregen genauso wie bevorstehende sexuelle Aktionen. Eigentlich noch mehr. Jede Körperzelle steht im Dienst des einen Spiels: 'Du oder ich'. Das Spiel mag sie. Dieses Spiel zu gewinnen, das hebt ihr Selbstbewußtsein. Dieses Spiel zu verlieren - darüber weiß sie nichts.

Sie erinnert sich, wie sie einmal durch den Systemverwalter ihres Projektes ausgeschlossen wurde, bloß, weil sie ein paarmal versehentlich versucht hatte, sich unter 'root' einzuloggen. Ohne das Paßwort hatte sie ja sowieso keine Chance, und so war sie sich keiner Schuld bewußt. Aber der betreffende Herr hatte nicht gewußt, daß sie bereits am selben Projekt arbeitete, oder er hatte sich darüber hinweggesetzt. Wollte beweisen, wer der Boß ist.

Der Krieg hatte eine ganze Woche gedauert. Einen Rechner nach dem anderen hatte sie aufgerollt. Bis sie endlich doch unter 'root' drin war. Am eigentlichen Projekt hatte sie diese Woche nicht gearbeitet. Und am Freitag dieser Woche mußten die anderen plötzlich auch damit aufhören. Sie hat diesen Herrn dann dazu gezwungen, ihr eine Art Geständnis zu unterschreiben - eine Selbstverpflichtung, nie wieder andere Teammitglieder auf diese Art von der Arbeit abzuhalten. Er hatte es getan - sonst hätte er das besondere Vergnügen gehabt, auf mehreren Maschinen das System von Scratch an neuzuinstallieren.

Kriege sind dazu da, um gewonnen zu werden.

Sie zieht die Luft ein. Kein Körpergeruch. In wenigen Metern Abstand, kaum Wind - da kann man andere Personen auch schon riechen, auch ohne die olefaktorische Mithilfe von gesteigertem Knoblauchkonsum oder reduzierter Körperhygiene. Aber sie riecht nichts. Riecht nichts, hört nichts, sieht nichts.

Ist es wieder ein Kampf gegen Windmühlen? Sie erinnert sich an einen anderen Fall. Dauernd war das Zugriffsdatum ihrer Dateien erstaunlich frisch. Sogar, wenn sie morgen zum Dienst kam, mußte sie feststellen, daß jemand bereits seine Nase in ihre Direktories gesteckt hatte.

Was hatte sie für Fallen gebaut! Dateien, deren Kenntnis man leicht versehentlich verraten konnte, ausführbare Programme, die ein X-Terminal in eine lautstarke Sirene verwandelten. All die üblichen Tricks eben. Aber es war vergeblich. Dieser Zustand dauerte ein paar Wochen an, und dann verlor der Fremde das Interesse. Nicht einmal die Inspektion der Zugangsprotokolle des Systems ergaben Erkenntnisse - da war ein Meister oder eine Meisterin am Werke. 'Meisterin' wäre ihr lieber gewesen. Aber sie kannte auch ihre wenigen Kolleginnen - naja.

Sie sieht das graue Band des Himmels. Mitten auf dem Weg steht jedenfalls keiner. Inzwischen hat sie sich auch schon ganz schön schmutzig gemacht. Sie ärgert sich. Hoffentlich ist da wirklich jemand - sonst ist die ganze Aufregung überflüssig.

Ein Gegner. Das braucht sie wie die Luft zum Atmen. Nur an Opposition kann man wachsen. Ein Gegner hilft im Leben genauso viel wie ein Freund. Eigentlich noch mehr. Ein Gegner gibt Widerstand. Je mehr, desto besser. Einen Gegner niederzuringen ist nur dann ein Erfolg, wenn Mißerfolg möglich war. Was, außer einem Gegner, bleibt einem denn noch, wenn man dabei ist, die fachlichen Belange eines Berufes fast routinemäßig zu meistern? Ist das der Grund, warum so viele in den Vierzigern ausbrechen? Anderer Beruf, oder Aufstieg ins Management? Flucht aus der Kompetenz in die Sphären neuer möglicher Inkompetenz? Nein, denkt sie. Das ist zu weit hergeholt. Gerade in der Führungsriege ihrer Firma sind zu viele, deren Intentionen sich eher mit der Floskel 'Schäfchen ins Trockene bringen' beschreiben lassen. Häuschen abzahlen, eigene Bälger großziehen, Zeit absitzen. Sollen andere den Industriestandort sichern - auch in kleineren Firmen gibt es eine Quasi-Verbeamtung.

Sie zwingt sich, weniger zu denken. Das ist jetzt nicht die Zeit, eingehende Selbstanalyse zu führen. Wenn sie nicht die ganze Nacht hier liegen will, muß etwas geschehen.

Sie greift ein kleines Steinchen. Sekunden später fliegt es in flachem Bogen in die Richtung, die sie für die wahrscheinlichste hält. Sie selbst ist dabei lautlos, aber man kann deutlich hören, wie das Steinchen gegen einen Stamm prallt und dann durch Gebüsch nach unten fällt. Das und nichts anderes hört man. Kein Tier bewegt sich, und auch sonst keine Reaktion.

Der andere ist wirklich gut. Oder es gibt ihn gar nicht.

Sie zwingt sich, zweigleisig zu denken. Immer die harmlose Zufallsbegegnung als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Nicht jemandem versehentlich Unrecht zu tun. Das hat ihr in der Firma mal den Spitznamen 'Rotvogel' eingebracht, obwohl sie weder einer linken Partei noch der Gewerkschaft nahesteht. Vielleicht liegt es auch an ihrer Haarfarbe.

Da war zum Beispiel der Fall des Kollegen Carl-Alfons. Nahezu ein Genie. So einen begnadeter Instinkt bei der Suche nach Fehlern in größeren Programmen kann der Firma das mehrfache seines Gehaltes ersparen. Ein angenehmer Kerl - bis auf eine Eigenheit: Beim Nachdenken bohrte er in der Nase. Gründlich und tief.

Wer so gründlich bohrt, fördert auch einiges zu Tage. Das muß dann auch irgendwo bleiben. Carl-Alfons, oder Calfons, wie sie ihn nennen, wischte das Zeug meistens am Rande seines Monitors ab. Mit der Folge, daß dort im Laufe der Zeit eine Art braunes Korallenriff wuchs.

Seine Kollegen hatten ihn oft drauf hingewiesen. Schuldbewußt hatte er sie angesehen und Besserung gelobt. Bis er das nächste Mal genötigt war, nachzudenken. Schwupp - schon war der Finger wieder in der Nase.

Da war der Kollege Crofter, der jeden jeden Morgen mit Handschlag begrüßte. Nie hat jemand ihm klarmachen können, wie überflüssig dieser Formalismus war. Bei Calfons hat er es nur einmal gemacht. Danach hat er entsetzt den Glibber in seiner Hand angesehen und daraufhin nie wieder jemandem die Hand gegeben.

Die Geschäftsleitung wurde erst darauf aufmerksam, als ein Projekt für die Stadtwasserwerke in Aussicht stand. Der Herr, der in den Geschäftsräumen war, um die Verhandlungen zu führen, war ein Reinlichkeitsfanatiker - sicher sehr angemessen, wenn man bei den Wasserwerken eine Führungsposition innehat. Als er dann durch die Labors geführt wurde, passierte es. Zwar gab er niemandem die Hand, aber er sah Calfon's PC und fragte, was das für eine nette, um den Bildschirm herum arrangierte Skulptur ist. Die meisten sahen woanders hin und fühlten sich nicht angesprochen. Bis auf den Kollegen Crofter, der endlich eine Gelegenheit sah, seinem früheren Ärger Luft zu machen. Er erklärte die Sache eingehend.

Der Herr von den Wasserwerken wurde grün im Gesicht. Calfons sah schuldbewußt drein und kam dann auf die glänzende Idee, das Ding, das er gerade gefördert hatte, in den Mund zu stecken und runterzuschlucken. Weg war es. Daraufhin zeigte sich die Gesichtsfarbe Grün als Komparativ-fähig, und der Herr strebte fluchtartig in Richtung Ausgang. Weg war er. Was die hoffnungsvolle Stimmung des Laborleiters betraf: Weg war sie.

Natürlich bekamen sie den Auftrag nicht. Daraufhin ging die Geschäftsleitung mit Calfons ins Gericht.

Da hatten sie aber nicht mit Susanne gerechnet. Sie sah das ganze als einen Fall sehr exzentrischen Verhaltens - keinesfalls ein Grund für irgendwelche arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Und sie veranstaltete einen entsprechenden Wirbel. Calfons behielt seinen Arbeitsplatz, bekam sogar ein eigenes Zimmer, wo er ganze vier Wände mit Korallenskulpturen zieren konnte, und Susanne profilierte sich so in unerwarteter Weise als kampfstarke Arbeitnehmervertretung.

Natürlich wies sie jeden Versuch einer persönlichen Danksagung von Calfons weit von sich - wegen der Gefahr eines Handschlages, versteht sich.

Wie gut, daß man Nasendreck nicht mit electronic mail verschicken kann.

Nein, Susanne tut niemandem Unrecht. Auch jetzt nicht. Ein harmloser Wanderer hat von ihr nichts zu befürchten. Aber warum, zum Henker, gibt er keinen Laut? Vielleicht ist es Calfons, der hier übt, stundenweise nicht in der Nase zu bohren?

Im Ernst - ihr wird die Sache allmählich lästig. Aber einfach zu rufen 'Wer da?', das wäre nicht angemessen. Das tun kleine, furchtsame Mädchen. Nicht Rotvogel Susanne.

Wenn sie nur daran gedacht hätte, Licht mitzunehmen. Aber normalerweise braucht sie ja kein Licht. Ärgerlich ist auch, daß die Laufunterbrechung inzwischen so lange dauert, daß sie den Lauf in zwei Teilläufe zerteilen muß. Und das wiederum verdirbt ihre Statistik über die durchschnittliche Länge der Läufe.

Sie macht das Experiment mit den geworfenen Steinchen noch ein paar Mal, um die akustische Illusion zu erzeugen, daß sie sich in Wirklichkeit an einer ganz anderen Stelle aufhält. Es nützt nichts: Reaktion ist gleich null.

Plötzlich fällt ihr die Kollegin Maja ein. Nicht 'Biene Maja' - dieser Spitzname bietet sich nicht gerade an, wenn man darum kämpfen muß, die 95 Kilo zu halten. Susanne hat mit Maja mal über das Laufen gesprochen, hat sich aber wohl gehütet, ihr diese Sportart nahezulegen. Wenn man mit diesem Körpergewicht das Laufen anfängt und das Pensum zu schnell steigert, dann kann man sich alle Gelenke kaputtmachen.

Aber Maja's Kampf mit den Kalorien ist verzweifelt - sie braucht Schokolade nur anzusehen, und sie nimmt zu. Naja, wenn sie sowieso zunimmt, dann wird die Schokolade auch gegessen, ist ja logisch. Aber Maja würde das Laufen ausprobieren, trotz aller Warnungen von Susanne, es doch lieber mit Radfahren oder, besser noch, mit Schwimmen zu versuchen. Und sie würde nachts laufen - bloß nicht gesehen werden. Jede Läuferin und jeder Läufer glaubt am Anfang alle Blicke auf sich.

Könnte es Maja sein? Hat Susanne nicht heute in der Firma mit ihr gesprochen und erwähnt, daß sie heute eigentlich nicht laufen wollte? Später hat sie sich ja anders entschieden, wegen der klaren Nachtluft, aber das weiß die Maja nicht. Und sie wohnt an der anderen Seite dieses Waldes. Und Susanne hat ihr doch erzählt, welche Wege man nachts, ohne Sicht, gefahrlos laufen kann. Sollte sie tatsächlich das Laufen angefangen haben? Das kann doch nicht sein.

"Maja?" fragt sie in die Dunkelheit hinein.

Da kommt ein Aufatmen zurück, als ob jemand die Last der Welt von den Schultern wirft. "Rotvogel! Du bist es!"

"Ja, natürlich bin ich es!" Susanne steht auf und geht auf die Stimme zu. "Warum gibst du denn keinen Laut?"

"Weiß ich, wer hier rumläuft? Ich hab solche Angst gehabt!"

"Blödsinn." sagt Susanne, "Hier ist man völlig sicher. Ich käme nie auf die Idee, daß hier Gefahr drohen könnte!"

"Aha. Und warum hast *du* dich so lange ruhig verhalten?"

"Logik," sagt Susanne, "ist eine chauvinistische Erfindung. Was wir Läuferinnen brauchen, ist Solidarität! - Laufen wir weiter?"

Und sie laufen weiter - die eine vorneweg, mit der Grazie einer Pantherin, die andere hinterher, mit der Überzeugung einer Diesellok. Man kann sie nicht voneinander unterscheiden.

Man sieht sie nämlich nicht.


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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Copyright © 1997 und alle Rechte verbleiben beim Heise-Verlag. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.


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