Brief von Zuhause


Josella Simone Playton



        Joycelyn Sabrina Parsons                     2328-08-19
        Weltbevölkerungskonferenz
        Abteilung Environmentalkontrolle
        Ringüberwachungsstation Zugspitze
        Zentral-Europa

        Erde

Liever Irvin!


Zunächst das Wichtigste: Mir geht es gut, ich habe einen guten Job, und mir fehlt nichts. Ausgenommen vielleicht Du - aber das Recht, das zu sagen, das habe ich nicht mehr. Das habe ich nicht mehr seit jenem Februartag, als ich mich für die Expedition zu Bally-Barn's Stern einschrieb. Das macht es so schwer, zum ersten Mal nach - wie langer Zeit? - wieder das Wort an den eigenen Sohn zu richten. Den man doch so im Stich gelassen hatte, als er die Mutter am dringendsten brauchte: In den ersten Jahren seines Lebens.

Aber ich mußte es tun. Dein Vater - inzwischen wirst du wissen, daß er gar nicht Dein Vater war - war ein Arschloch. Ich konnte ihn nicht mehr ertragen. Man hat nur ein Leben. Ich habe meines mit der Flucht zu den Sternen gerettet. Außerdem hat die WBK mich darin unterstützt und dazu animiert - aber das ist natürlich keine Entschuldigung. Es gibt auch keine andere Entschuldigung.

Jetzt, nach dieser langen Zeit, bin ich zurückgekehrt. Ich habe natürlich erwartet, daß Du seit mindestens zwei Jahrhunderten tot bist. Woher sollte ich wissen, daß Du, wie ich, die Erde verlassen würdest? - Die Spielregeln der Relativität bringen die Familienbeziehungen ganz schön durcheinander.

Wer hat das gesagt: 'Instellare Entfernungen sind Gottes Quarantänebestimmungen.'?

Wenn diese Botschaft Dich erreicht, wirst Du die Erde nie wieder gesehen haben und nie wieder sehen können. Ich erzähle Dir ein bißchen was über die Erde. So, wie sie heute aussieht. Und über meinen Job. Das hängt damit zusammen. Wie bringe ich es in die richtige Reihenfolge?

Als ich zurückkam, waren auf der Erde 298 Jahre vergangen, und ich war zehn Jahre älter geworden. Zehn Jahre Dienstpflicht auf der neu zu gründenden Kolonie auf Bally-Barn's Stern - das war damals üblich - und der ist 144 Lichtjahre entfernt. Was soll ich dir von Bally-Barn's Stern und seinen Planeten, die wir vorgefunden haben, erzählen? Unser Planet, der vierte, war eine erdähnliche Welt, von Menschen unbewohnt und ohne eigenes intelligentes Leben. Eine reichhaltige Biosphäre, so, wie es auf der Erde einmal war, und wie es wieder sein wird. Bemerkenswert die Olympus-Mountain-Range - mit 32 Kilometern Höhe wohl die höchste Bergkette, die man bis jetzt auf erdähnlichen Planeten je vorgefunden hat. Es gab halt die üblichen Schwierigkeiten einer Kolonie-Gründung - Du wirst es von Deiner neuen Heimat kennen.

Ich hätte für immer dort bleiben können, aber ich wollte die Erde wiedersehen, aus einem vielleicht nicht ganz rationalen Grund. Deshalb habe ich meinen Vertrag nicht verlängert. Vielleicht wollte ich auch an Deinem Grabe stehen - wie konnte ich wissen, daß Du jetzt noch auf dem Weg hinaus bist? Daß Du noch keine 20 Jahre Eigenzeit alt bist?

Der erste Eindruck vom unserem Sonnensystem war der erwartete: mehr Raumfahrt, größere planetare Kolonien. Wirtschaftliche Stabilität auf hohem Niveau. Ich durfte hoffen, daß es dir gut ergangen war, in Deiner Zeit.

Dann sah ich die Erde.

Der Planet war immer noch - oder schon wieder? - blau. Vielleicht hatte ich etwas anderes erwartet. Ganz gewiß aber hatte ich nicht mit den Ringen gerechnet.

Kannst Du Dich an den Saturn erinnern? Die Erde hat jetzt auch solche Ringe. Sie fangen etwas über 1000 Kilometer über dem Äquator an und reichen bis in eine Höhe von über 100_000 Kilometern. Stellenweise sind sie dichter als die Saturnringe, und sie sind viel heller.

Auf der Erde gibt es keine Nacht mehr - bis auf ein eng begrenztes Gebiet um die Pole herum. Von überall her kann man die Ringe sehen, am Tages- und ganz besonders am Nachthimmel. Gewaltige, gebogene, leuchtende Krumschwerter, die vom West- und vom Osthorizont aufragen. In der Mitte, das fahle Verbindungsstück - da liegt immer der Erdschatten auf den Ringen. Nur in der Sommer- und in der Wintermitte berühren sich die beiden Säbel aus Licht.

Wir waren alle baß, sogar der Käpten. Niemand im Schiff hatte so etwas erwartet. Es hatte zwar Befürchtungen gegeben - nach so langer Zeit muß man mit Überraschungen rechnen. Sogar, daß die Menschheit im Solaren System wieder zu ihren Fehlern aus dem zwanzigsten Jahrhundert zurückgekehrt und sich durch Kriege dezimiert oder anihiliert hatte - das alles war ja im Bereich der Möglichkeiten. Beim Anblick dieser Ringe wurde von einigen der Rückkehrer Besorgnis geäußert, daß wir gar nicht im richtigen Sonnensystem waren. Das war natürlich Unsinn - schon Minuten nach dem Rematerialisationspunkt, noch jenseits der Transplutobahn, waren wir schon von der terranischen Einflugkontrolle erfaßt und identifiziert worden.

Das Wiedersehen mit der Erde beschränkte sich aber zunächst auf den Anblick von außen - wir wurden auf Lunar One umgeleitet. War zu Deiner Zeit schon geplant worden, alle instellaren Raumflughäfen auf der Erde wieder zu schließen?

Die Menschen auf der Erde sind tatsächlich dezimiert worden, wenn auch nicht durch Kriege und Katastrophen. Von allen Planeten des Sonnensystems gelten auf der Erde noch die strengsten Umweltschutzbestimmungen - das ist ein Grund, um nicht unbedingt auf der Erde leben zu müssen - und nach der Entdeckung des Transitionsantriebes hat ein Exodus der Menschheit zu den Sternen eingesetzt, der bis heute nicht aufgehört hat - wir gehörten zu den ersten, Irvin! Ich bin ein wenig stolz. Vieviele hundert Millionen jetzt, während ich dies schreibe, immer noch auf dem Weg hinaus sind, oder sich bereits auf den Planeten fremder Sterne etabliert haben!

Tatsächlich: Wenn ich jetzt zum Fenster rausblicke - die meisten Sterne, die man mit bloßem Auge sehen konnte, als die Ringe noch nicht den Nachthimmel lichtverseucht hatten, scheinen auf von Menschen bewohnte Welten!

Das sind zwei Gründe, aus denen die Erde jetzt nur noch dünn besiedelt ist und der überwiegende Teil der Menschheit im Sonnensystem auf den anderen Planeten oder in Orbitalstädten wohnt. Den dritten kennst Du vielleicht, denn die historischen Anfänge lagen in unserer Zeit, vor fast 300 bis 250 Jahren. Es ist eine supranationale Einrichtung, die sogenannte 'Weltbevölkerungskonferenz'. Die haben vor langer Zeit die ökologische Erneuerung des Lebensraumes Sonnensystem in die Wege geleitet, und es ist auch jetzt noch die mächstigste Organisation. So etwas hat es vor unserer Zeit, etwa im zwanzigsten Jahrhundert, nur rudimentär gegeben. Die UN, zum Beispiel. Verglichen mit der WBK ein bedeutungsloser und schwacher Haufen.

Die Weltbevölkerungskonferenz ist auch mein Arbeitgeber. Ich deutete bereits an, daß sie am liebsten die Erde menschenfrei hätten, und es gibt auch konkrete Pläne dafür. Aber dazu wird es wohl auf Jahrhunderte hinaus nicht kommen. Aber sie halten die Erde sauber, das muß man schon sagen. Touristik und Kultur und Landschaftspflege. Das sind die Hauptindustrien. Es gibt keine Deponien mehr, und keine Industriewüsten, und selbst hier, in Mitteleuropa, ist der Himmel bei Hochdruckwetterlage so klar, daß er bis zum Horizont herunter blau ist. Ich hätte nie gedacht, daß das möglich ist! - Naja, auf Bally-Barn's 4 war es ja auch so.

Jetzt wirst Du wissen wollen, wo all der Dreck geblieben ist, der sich in und vor unserer Zeit ansammelte und die ganze Erde zuzuschütten drohte. Errätst Du's nicht? Ich habe noch nicht gesagt, wo die Ringe der Erde herkommen!

Genau. Es war keine Kollision von Kleinplaneten in der Nähe der Erde, innerhalb der Rochegrenze. Die Ringe, das ist Müll! Unser Müll, angesammelt in Jahrhunderten - ausgenommen radioaktives Material, welches ebenfalls von der Erde fortgeschafft, aber nach wie vor in die Sonne geworfen wird.

Du hast sicher damals bereits die Anfänge miterlebt. War doch schon in meiner Zeit die erdnahe Raumfahrt problematisch, weil die Trümmer zahlloser Raumfahrtaktivitäten - vom Farbkratzer bis zur hundert Tonne schweren Transportpalette, die irgendwann abhanden gekommen war - auf zahllosen individuellen Bahnen die Erde umkreisten. Der beobachtungstechnische und rechnerische Aufwand, um ständig über all diese potentiell tödlichen Geschosse Bescheid zu wissen, wuchs ständig und machte schließlich einen wesentlichen Teil der Kosten der erdnahen Raumfahrt aus. Versuche, den erdnahem Raum wieder freizubekommen, scheiterten an den immensen Kosten.

Dann haben sie eben aus der Not eine Tugend gemacht, und es war im wesentlichen die Weltbevölkerungskonferenz, die das betrieb. Damals haben sie das erste Mal gezeigt, daß sie noch andere Dinge tun konnten als Menschen dazu zu bringen, die Erde für immer zu verlassen oder keine Kinder in die Welt zu setzen. (Trotzdem hat sich die Bezeichnung 'Weltentvölkerungskonferenz' bis heute gehalten!).

Die erste Idee war, insbesondere die Bahn der größeren Trümmerstücke so zu verändern, daß sie genau in der Äquatorebene zu liegen kam. Das würde für jedes Raumschiff auf einer gegen die Äquatorebene geneigten Umlaufbahn nur beim Durchstoßen dieser Ebene Probleme bringen - und das ist schon sehr viel übersichtlicher. Allerdings zeigte sich dann, daß die Menge der erforderlichen Bahnkorrekturen einfach nicht machbar war - man hätte jedes Trümmerstück einzeln ansteuern und im geeigneten Moment ankicken müssen. Da wurde das Ringkonzept geboren.

Numerische Simulationen gingen voraus. Das war ja kein ganz unbekanntes Gebiet, denn mit der Stabilität der Saturnringe hatte man sich ja schon lange vorher beschäftigt, schon im neunzehnten Jahrhundert. Es zeigte sich, daß ein analoges Ringsystem um die Erde stabil sein würde - jedenfalls so stabil wie die Saturnringe, also mit einer Lebenserwartung von einigen Millionen Jahren - wenn sie aus wenigstens einigen Gramm pro Quadratmeter Ringfläche bestanden. Daraus errechnete sich für ein Ringsystem, das in eine Höhe bis 15 Erdradien reichen und einige Lücken haben sollte, eine Gesamtmasse von um die hundert Milliarden Tonnen. Ein Ringsystem von dieser Masse würde sich deshalb einigermaßen selbst stabilisieren, weil alle Bestandteile auf geneigten Bahnen über kurz oder lang durch Kollisionen mit anderen Ringbestandteilen ihre Bahn an die Ringebene angleichen würden.

Aber woher sollten hundert Milliarden Tonnen in erdnahe Umlaufbahnen gehoben werden? Und wie? Und von welchem Geld?

Das muß der Zeitpunkt gewesen sein, an dem irgendeinem hellen Kopf in der WBK eingefallen ist, daß es sich dabei um dieselben Größenordnungen handelt, in denen der Müll auf allen Deponien der Erde zu messen ist - ein Glücksfall für den Planeten Erde, denn helle Köpfe sind in großen Organisationen selten, und die WBK macht da keine Ausnahme.

Unbemerkt von allen hatten sich nämlich inzwischen zwei Trends getroffen: Einerseits ist die Müllentsorgung auf der Erde ständig teurer geworden - natürlich erst recht mit steigendem Einfluß der WBK - andererseits hat die Erfindung des Fleischmann-Pons-Reaktors am Anfang des 21. Jahrhunderts Energie und damit die interplanetare Raumfahrt immer billiger werden lassen.

Tatsächlich stellte es sich heraus, daß es die billigste Entsorgungsmethode war, den Müll einfach in äquatoriale Umlaufbahnen zu heben!

Kaum, daß dieses Konzept geboren war, stellte es sich als praktisch ideal heraus. Zum einen war Platz für die erforderlichen Mengen vorhanden. Zum Zweiten sorgte die harte UV- und Partikelstrahlung der Sonne dafür, daß gefährliche Großmoleküle im Weltraum rasch zu harmlosen Bestandteilen zerschossen wurden - ob Dioxine oder Furane oder infektiöser Abfall aus Krankenhäusern oder Internierungslagern der WBK - unter Weltraumbedingungen zerlegt sich alles in steriles Gerümpel und harmlose Gase.

Natürlich entstanden die Ringe nicht an einem Tag. Aber in den fast dreihundert Jahren, die ich fort war, ist praktisch der Inhalt aller Deponien der Erde und auch einiges Zeug von den Außenwelten in die Erdringe geschafft worden. Was jetzt noch hingebracht wird, ist der Müll, der so laufend anfällt. Die Ringe werden nur noch langsam massereicher. Aber sie werden der Erde bleiben - solange es im Sonnensystem Menschen gibt, und noch ein paar Millionen Jahre danach.

Man sieht es den Ringen von hier unten nicht an, woraus sie bestehen. Du, Irvin, würdest sie auch schön finden. In Grenzen jedenfalls, denn den Genuß einer sternklaren Nacht wird es für die nächsten Jahrmillionen auf der Erde nicht mehr geben.

Die Ringe sind das größte materielle Objekt, das Menschen je geschaffen haben!

Aber, und das ist der Punkt, die Ringe sind nicht ganz wartungsfrei - außer der weiteren Auffüllung mit Müll. Solange noch Menschen auf der Erde selbst wohnen - und es sind ja immerhin noch etwa eine viertel Milliarde, soviel wie die WBK für den Planeten Erde eben zuläßt - und solange erdnahe Raumfahrt noch notwendig ist - Raumstationen und Kommunikationssatelliten und die regulären Linien zu den Außenwelten - solange muß man die Ringe sehr genau im Auge behalten. Das ist mein Job.

Ein aufwendiger Job. Es ist nötig, über die Orbitalparameter aller größeren Trümmerstücke ständig informiert zu sein. Und das sind Milliarden. Ob Bildröhrenfragment, Karosserie oder Flußdampfer - ja, sogar so etwas fliegt da oben rum! - von all diesen Dingen müssen wir jede Sekunde wissen, wo sie sich befinden. Eine ganze Reihe von Computern tut nichts anderes, als ständig diese Orbits fortzurechnen. Diese Orbits werden zu den Orbits aller angemeldeten erdnahen Raumflüge in Beziehung gesetzt, und die Annäherung an jede Raumstation und jeden Satelliten wird ständig überprüft. Besteht irgendwo Kollisionsgefahr, dann gibt es rechtzeitig Alarm.

Dann müssen wir überprüfen, ob eventuell größere Trümmerstücke die Ringebene verlassen - das kann immer passieren, durch irgendwelche ringinternen Kollisionen. Dann müssen wir etwas dagegen tun. Ebenso müssen wir tätig werden, wenn die Satelliten, die nichts weiter tun als den Ring zu beobachten, plötzlich melden, daß bestimmte größere Objekte nicht mehr da sind, wo sie sein sollten. Dem müssen wir unverzüglich nachgehen.

Dann sind da die Ringlücken. Wie Du vielleicht weißt, gibt es die auch in den Saturnringen, und sie entstehen durch gravitationelle Resonanzerscheinungen, also durch Wechselwirkung mit den verschiedenen Monden des Saturn. Der Erdmond ist da leider nicht so gut geeignet, und deshalb müssen wir die Lücken selbst freihalten. Das ist halt Himmelsmechanik: Entweder, ein Orbit liegt genau in der Ringebene, oder die Ringebene wird zweimal auf jedem Umlauf durchstoßen. Deshalb die Lücken. Sonst wäre erdnahe Raumfahrt überhaupt nicht mehr möglich.

Noch einen anderen Grund gibt es für die Ringlücken: Ausgenommen zum Zeitpunkt der Äquinoktien liegt natürlich tagsüber der Schatten der Ringe auf der Erde, und zwar auf der jeweiligen Winterhalbkugel. Der Gegensatz der Jahreszeiten wird dadurch verschärft. Um diesen Effekt etwas abzuschwächen sind Lücken in den Ringen erforderlich - naja, etwas transparent sind die Ringe ja sowieso.

Dann ist da noch die untere Ringkante, die spezielle Aufmerksamkeit verdient. Die Ringbestandteile dort unterliegen bereits dem Einfluß der Erdatmoshäre und neigen deshalb dazu, langsam herunterzuspiralen. Wenn es sich um größere Trümmer handelt, dann müssen wir sie natürlich abschießen, damit nichts bis zur Erdoberfläche durchkommen und dort Schaden anrichten kann. Am Anfang der Ringbewirtschaftung hat es in der Äquatorgegend ein paar folgenschwere Einschläge gegeben. Aber jetzt haben wir die Sache im Griff - unseren Killersatelliten entgeht nichts.

Gelegentlich müssen wir auch in die elektrischen Eigenschaften der Ringe eingreifen, damit sich nicht große Potentialunterschiede zwischen verschiedenen Ring-Arealen ausbilden und die elektrischen Entladungen zu Funkstörungen und vagabundierenden Ionenhagelschauern führen. Das erreicht man durch die Injektion einiger hundert Tonnen von Salzen Seltener Erden in sorgsam berechnete Ringelemente. Der Aufwand, um die Ionenströme vorauszuberechnen, ist gewaltig, aber immer noch billiger als die Havarie eines Raumschiffes.

All diese Funktionalitäten überwache ich. Der Kontrollraum, in dem ich und meine Kollegen arbeiten, sieht auf den ersten Blick aus wie der Kommandoraum eines großen Auswanderer-Raumschiffes. Zahllose Bildschirme und Tastaturen. Die visuellen Direktübertragungen aller Überwachungssatelliten, aufgenommen in allen Wellenlängen, die das elektromagnetische Spektrum so hergibt. Der Status der Simulationsprogramme, die Auflistung himmelsmechanisch kritischer Situationen. Ein immenser Aufwand. Eine große Verantwortung. Ich glaube, ich bleibe bei diesem Beruf. Die Ringe sind schön, und sie sind wichtig - und ich glaube, ich bin zu alt, um noch einmal zu den Sternen zu fliegen.

Noch einmal zu den Sternen fliegen - Das könnte ich. Im Prinzip. Ich brauchte nur den Weg dieser Botschaft zu nehmen. In den Archiven ist ja euer Ziel verzeichnet, und wenn ihr euch an den Plan haltet, dann hast Du jetzt die Hälfte Deines ersten Wegstückes hinter dir.

Welcher Gegensatz! Um auf diese Ringe aufzupassen und Schaden zu verhüten, dazu sind die feinsten Computer notwendig, die Geld kaufen kann. Den Weg zu dir, den prinzipiellen Weg - den Pfad durch die Raumzeit - den kann man im Kopf ausrechnen. Wie ich es schon tausendmal gemacht habe. Du kennst die Spielregeln.

Transitionssprünge verbinden Ausgangspunkt und Ziel immer mit genau Lichtgeschwindigkeit, und das macht es natürlich einfach, weil die Eigenzeit immer Null ist. Die Spezielle Relativitätstheorie ist ohnehin eine der einfachsten Sparten der Physik. Und die grundlegendste.

Marchant's System - das ist euer erstes Ziel. 2750 Lichtjahre von der Erde entfernt. Dort verläßt die erste Gruppe das Schiff - vorausgesetzt, sie finden dort wirklich bewohnbare Planeten. Der Rest fliegt weiter. Das zweite Ziel ist Danton's Stern. 3250 Lichtjahre von Marchant's System, aber nur 4820 Lichtjahre von der Erde entfernt. Du hast Dich vor etwa 280 Jahren Erdzeit auf den Weg gemacht, wirst also in 2470 Jahren Erdzeit in Marchant's System sein, und weitere 3250 Jahre später, in 5720 Jahren Erdzeit bei Danton's Stern. Wenn ihr in Marchant's System nicht zuviel Zeit vertrödelt, dann hast Du dann Deinen zwanzigsten Geburtstag immer noch vor dir!

In 5720 Jahren Erdzeit - Ich könnte in 4820 Jahren Erdzeit dort sein, wenn es einen direkten Flug gäbe. Wenn ich dann dort bliebe, wäre ich schon über 800 Jahre tot, wenn Du ankommst. Bloß über 800 Jahre - nach Deinem Wissensstand sollte ich dann ja vor mehr als 5600 Jahren auf der Erde gestorben sein - oder auf Bally-Barn's Stern, denn ohne diesen Brief wüßtest Du ja nicht, daß ich zur Erde zurückgekommen bin.

Niemand wird bloß wegen mir ein Schiff ausrüsten - und allein kann ich es natürlich nicht bezahlen. Hätte ich eins, dann könnte ich Danton mit zwei Sprüngen erreichen. Ein geschicktes Dreieck - und wir kämen gleichzeitig an. Wäre das nichts!

Aber so wird es nicht sein. Kurz nach Eurer Koloniegründung wird eine Postsonde nach Danton kommen. Unbemannt. Sie wird, unter anderem, diese Botschaft enthalten. Auch andere, die sowohl früher als auch später aufgegeben worden sind. Und wenn ihr den Aufbau Eurer Welt nicht geschafft habt, oder wenn ihr aus irgendwelchen Gründen einen anderen Kurs genommen habt, dann wird die Postsonde ein paar Jahrhunderte lang um Danton's Stern kreisen, bis ihre Funkbaake verstummen wird. Dann wird sie noch eine Ewigkeit dort weiterkreisen - mit dieser Botschaft und mit hunderttausend anderen. Alles Briefe 'von Zuhause'. Und niemand wird sie je lesen.

So einfach ist das. Und so kompliziert. Ein Minkowski-Diagramm auf der Fläche einer Hand entscheidet über Schicksale. Dazu braucht man keine Computer. Computer braucht man nur, um über die hundert Milliarden Sterne in dieser Galaxis die Übersicht zu behalten und dort zu navigieren - oder über die ebenso zahlreichen größeren Trümmerstücke in meinen Ringen.

Was soll ich jetzt noch sagen? 'Du fehlst mir' wäre gelogen - als ich Dich das letzte Mal gesehen habe, hattest Du noch große Schwierigkeiten mit den ersten paar Worten, die Du schon konntest. Deine Haare waren rot - sind sie das immer noch? Ich habe Dich nicht aufwachsen sehen.

Hast Du ein nettes Mädchen kennengelernt? Hast Du Familie? Kinder? Was ist Dein Beruf, Deine Spezialität? Weißt Du, was ein Fahrrad ist? Kann man auf Danton's Planeten schwimmen gehen? In einem richtigen Meer? Mit Brandung? Kann man auf Bäume klettern und auf Berge steigen? Hast Du Dich an die fremden Konstellationen am Nachthimmel gewöhnt? Ich weiß, es gibt in euer Nähe einen Kugelhaufen - es muß ein phantastischer Anblick am Nachthimmel sein. Überhaupt die Nächte - hast Du je den Wind in einer milden Sommernacht gespürt? Gibt's dort überhaupt atembare Luft, oder müßt ihr in künstlichen Domen leben? Oder ist es dort heiß, wie im Vorhof der Hölle, oder ist eure Welt von ewigem Eis bedeckt? Wie habt ihr es euch politisch eingerichtet, in eurer Kolonie? - Wenn ich das alles doch nur wüßte!

Denk an die Erde. Wir hätten sie fast kaputt gemacht, mit unserer verdammten Fruchtbarkeit. Darum hat die WBK uns zu den Sternen geschickt. Ob sie überlegt haben, daß man auf fremden Planeten genau dieselben Fehler machen kann? Der Arm der WBK reicht nicht bis zu den Sternen, weißt Du - sie können uns auf den Weg schicken - aber dann haben sie keine Macht mehr über uns. Sie haben uns entlassen. Aus der Menschheit des Sonnensystems entlassen. Jede Gruppe muß ihren eigenen Weg finden.

'Erde' wird für euch sein wie eine Sage aus der Vorzeit.

Irvin, mein Junge. Paß auf Dich auf. Auch, wenn es Dich - im strengen Sinne - im Moment gar nicht gibt. Wo ist man während der Transition? Ich kann Himmelsmechanik und Relativitätstheorie, aber diese Hyperphysik habe ich nie begriffen. Die Transition ist für mich wie Zauberei. Für die meisten ist es wohl so. - Wenigstens hält sie sich an die Kausalität - in einem Universum mit überlichtschnellen Transportvorgängen würde ich nicht leben wollen. Oder vielleicht doch? Wir könnten uns dann wiedersehen!

Bleiben wir bei der Realität. Zusammen mit dieser Botschaft findest Du digitalisierte Bilder. Ich habe auch noch die eine oder andere Anmerkung angefügt. Man kann keine Gegenstände mit der Postsonde befördern, weißt Du. Sonst hätte ich dir Deine Holzflöte - Du kannst Dich sicher nicht mehr erinnern. Sie geht sowieso nicht mehr, weil Du das Labium abgebissen hast. - Ich habe sie die ganze Zeit auf Bally-Barn's Stern bei mir getragen.

Paß auf Dich auf, auf diesem fremden Planeten. Ich weiß ein bißchen, wie das ist, wenn man soweit von Zuhause weg ist. Wenn man weggelaufen ist. Und wenn man immer und überall die Vergangenheit mit sich herum schleppt.

Ich bin zurückgekommen - im Raum, aber nicht in der Zeit. Fast dreihundert Jahre ändern so vieles. Ich bin zurück und trotzdem in der Fremde gestrandet. Meine Ringe entschädigen mich dafür wenig.

Du wirst nicht einmal im Raum zurückkehren. Diesen Schritt hast Du wirklich und unwiderruflich getan.

Wer hätte denn das Privileg, zu wissen, ob man im Leben das richtige getan hat, oder nicht?


Lebe wohl. Mutter.



© 1996 .. 2003 Josella Simone Playton
Diese Seite wurde das letzte Mal um 2003-05-11 15:00:00 MESZ modifiziert.

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