Sichtung


Josella Simone Playton


"Manchmal, Lydia, als ich so jung war wie du jetzt, da habe ich mich gefragt: Was ist es, was die Nacht so geheimnisvoll macht? Was geschieht da draußen, unter dem Mond? Welche Wesen bewohnen die Welt, wenn wir uns in unsere Häuser zurückziehen? Welche Welt ist dort verborgen, und warum wollen uns die Erwachsenen darüber nichts erzählen?"

Der alte Mann streichelte über die Tastatur. Die Intensität des Bildschirmes war weit herunter gedreht, damit die Nachtadaption der Augen nicht durch Blendung verlorenging. Aus demselben Grund waren die meisten Bildelemente in tiefrot oder braun gehalten: ein alter Trick der Astronomen aus der Zeit, als sie noch selber durch die Fernrohre gucken mußten.

"Heute," sagte der alte Mann, "weiß ich es."

Die Nebelbank über dem Wasser zog sich dichter zusammen. Das andere Ufer, über einen Kilometer entfernt, sah man schon seit einer Stunde nicht mehr.

"Und was," fragte das Mädchen, "ist so geheimnisvoll in der Nacht?"

Der Mann ließ sich Zeit, bis er antwortete. "Es ist dunkel!" sagte er plötzlich. "Das ist es. Es ist dunkel." Sein Satz wurde von einem Klatschen beendet. "Es ist dunkel, es ist feucht, und es gibt Mücken. Keine Geheimnisse."

Die kleinen Wellen liefen vor ihren Füßen im Ufergeröll aus. Ein ständiges Gurgeln - wenn der Wind stärker war, dann gab es auf diesem See sogar eine richtige Brandung, kurzwellig und ruppig, unangenehm für Paddelboote. Jetzt konnten sie die kleinen Brecherchen nicht einmal sehen, weil das Mondlicht vom undurchdringlichen Uferdschungel hinter ihnen abgeschirmt wurde. Auch die beiden einsamen Personen konnte man schon aus ein paar Dutzend Metern Entfernung nicht mehr wahrnehmen, wenn gerade mal keiner sprach. Das war in dieser Nacht schon oft der Fall gewesen.

Das Mädchen setzte sich um. Sie war ein ruhiges Kind, aber stundenlang auf unebenem Geröll stillzusitzen, das ist für jede 13-jährige eine harte Herausforderung.

Aber sie war auch ein phantasievolles Kind. Von diesem See war sie fasziniert worden, seit sie vor vielen Jahren das erste Mal davon gehört hatte.

"Schade, daß wir keine Bilder haben!" sagte sie. Dabei wußte sie, warum: elektromagnetische Wellen konnten Dutzende Meter im Wasser nicht überwinden. Nicht mit dieser schwachen Sendeleistung, und nicht für die großen Datenmengen, die eine richtige Bildübertragung erforderte. Der alte Mann wußte, daß das Mädchen die Zusammenhänge kannte, weil er es ihr oft erklärt hatte, und sagte kein Wort.

Ein einsames Motorengeräusch drang vom anderen Ufer herüber. Ein später PKW-Fahrer auf dem Weg von Inverness nach Invermoriston oder Fort Augustus. Die Nebelbank mußte am jenseitigen Ufer noch dichter sein, denn nicht eine Spur des Scheinwerferlichtes drang herüber. Langsam verlor sich das Geräusch im Westen.

"200 Meter gehen wieder durch. Die Signale sind sehr schwach." murmelte der alte Mann. Auch er war schon lange von der alten Legende fasziniert worden. Jetzt aber war er müde, und er glaubte nicht mehr an Legenden. Jedenfalls nicht mehr so richtig.

Warum muß man erst alt werden, um sich die Fragen aus der Kindheit beantworten zu können? Und würde er überhaupt eine Antwort bekommen? Wie vielen hatte dieser See schon die Arbeit eines ganzen Lebens abverlangt. Und nichts war gefunden worden. Warum sollte ausgerechnet er etwas finden, was sich wesentlich besser ausgestatteten Forschungsteams immer wieder entzogen hatte?

"Sehr schwach." wiederholte er.

"Und?" fragte das Mädchen.

"Nichts 'und'. Wenn der Sonarkontakt verloren geht, dann taucht es selbstständig auf."

Natürlich wußte das Mädchen auch das. Sie hatte selber an der Programmierung mitgearbeitet. Soweit ihre Eltern das zugelassen hatten, denn es gab ja auch noch die Schule. Aber Kinder mit Begeisterung können unheimlich viel erreichen - der alte Mann wünschte, er könnte sich noch einmal in die Gedankenwelt eines Kindes hineinversetzen. Die Welt voller Wunder, Herausforderungen und Versprechungen. Und die Nacht voller Geheimnisse.

"220 Meter gehen durch. - Mmh. Merkwürdig."

"Warum?"

"Im südwestlichen Teil des Lochs gibt es nur Lotungen bis gerade 220 Meter. Das Boot müßte jetzt auf dem Grund aufsetzen. Tut es aber nicht!"

"Und was bedeutet das?" fragte das Mädchen.

"Eine neue Lotung. Oder die Druckmessung ist defekt. Da! 230 Meter gehen durch. 227 Meter ist die tiefste Stelle im nordöstlichen Teil!"

Gebannt starrten sie den Bildschirm an. Das Mädchen hatte jetzt sogar vergessen, wie unheimlich ihr der Friedhof von Foyers erschienen war, den sie mit ihren schweren Geräten überqueren mußten, um hierher zu kommen - jetzt war das unheimliche da draußen, und es war wirklich. Auch wenn es bloß eine unerwartet tiefe Stelle war.

"Bitfehler. Jede Menge Einzelbitfehler! Wenn unsere Sendung genau so stark beschädigt ankommt, dann taucht es gleich auf."

"Können wir dann gleich ..."

"Sicher. Sowie es oben ist, überträgt es sofort alles, was es hat. Und wenn die Lydia die Videokassetten nicht vergessen hat, dann haben wir die tiefste Stelle des Lochs für die Nachwelt festgehalten!"

"Ich habe nichts vergessen!" sagte das Mädchen, leicht beleidigt. Sie strich mit der Hand über den Videorecorder. Von einer Sekunde zur anderen konnte sie die Aufzeichnung starten, wenn notwendig.

"Das habe ich ja nicht gesagt."

Eine Weile hatte der alte Mann mit dem Rechner zu tun. Die Sonardatenübertragung ließ nur das allernotwendigste zu: Steuerbefehle, Meßwerte. Allerdings genug Meßwerte, um deren interne Konsistenz zu überprüfen. So wurde zum Beispiel der Innendruck des Bootes einfach dem Außendruck angepaßt, was die Konstruktion sehr vereinfacht hatte. Mit dem Innendruck stand ein zweiter Druckmeßwert zur Verfügung. Und der war genauso groß wie der erste Meßwert.

Das Boot war tatsächlich 230 Meter tief. Und es sank noch immer.

Der alte Mann wünschte sich, er hätte etwas mehr Aufwand in die Programmierung des Bootes gesteckt, damit es länger unabhängig operieren konnte. Zweifellos eine technische Herausforderung. Aber soviel Zeit hatten sie nicht gehabt.

"Da. Signal ist weg!" Sie sagten es gleichzeitig. Sonst hätten sie gelacht. Jetzt nicht. Auch wenn ein unbemanntes Bootsmodell keine Menschenleben forderte, wenn es verloren gehen sollte, so lagen dort draußen doch große, materielle Werte. Für den alten Mann wenigstens. Computer, Videokameras, Feinmechanik, Funktechnologie. Die Arbeit von vielen Wochenenden und Urlaubswochen. Ein Jahresgehalt mindestens. Es ist schon etwas schade, wenn soviel Technik durch irgend einen unglücklichen Umstand in ein Stück Müll am Grunde des Lochs verwandelt wird.

"Läßt du's jetzt auftauchen?" fragte das Mädchen.

"Ich weiß nicht recht." Der alte Mann sprach mehr zu sich selbst. "Es war noch auf dem Wege nach unten. Der Grund war also noch weiter entfernt. Wenn wir's jetzt hochholen, dann kriegen wir eventuell gar keine Bilder von der tiefsten Stelle!"

"Oder vom Monster!" jubelte das Mädchen. Unruhig rutschte es hin und her.

"Oder vom Monster." Daran glaubte der alte Mann natürlich am allerwenigsten. Obwohl gerade das ihrem Tun den Anstrich des Abenteuers gab.

"Hörst du etwas?" fragte er das Mädchen, "Wenn es von sich aus auftaucht - es muß etwa drei Kilometer entfernt sein!"

Sie schüttelte den Kopf, aber das konnte der alte Mann in der Dunkelheit nicht sehen. Seine Frage war eigentlich auch überflüssig, denn wenn das Boot den Auftauchvorgang einleitete, dann würde der Sonarkontakt wieder hergestellt worden sein, bevor die ersten Luftblasen die Oberfläche erreichten. Das war auch noch so ein Problem, dachte er: Er mußte es irgendwie noch in den Griff kriegen, daß beim Anblasen der äußeren Schwimmtanks nicht so viel Luft daneben ging. Es ist halt Physik: Der Druckabfall beim Auftauchen. Dann dehnt sich die Luft aus. Und aus dem Innenraum mußte ebenfalls überflüssige Luft abgelassen werden. Sonst konnte das Boot platzen.

Die Alternative wäre ein richtiger Druckkörper gewesen, der mehr als 20 Bar aushielt. Das war jenseits seiner Möglichkeiten gewesen.

Das Boot tauchte nicht auf. Also empfing es ihre Sonarsendungen immer noch mit genügender Qualität.

Der alte Mann lachte. "Was ist?" fragte das Mädchen.

"Hast du das Buch gelesen? Das ich dir geschenkt habe?"

"Diese dicke Schwarte? Nein. - Äh - noch nicht!" gab das Mädchen zu.

"Eilt ja auch nicht."

Der alte Mann dachte nach, bevor er weitersprach.

"Da ist von einem riesigen Höhlensystem unter ganz Mitteleuropa die Rede. Ein Volumen von Tausenden von Kubikkilometern. Leuchtende Wolken. Tropische Vegetation. Urweltliche Tiere und Pflanzen. Meere, Gebirge, Säulen, die den Himmel aus Felsen tragen. Alles ganz weit hergeholt, aber irgendwie ..."

"Ja?"

"Ja. Es ist geologisch unmöglich. Aber eine nette Idee. Die Hauptpersonen kommen zum Schluß im Loch Ness heraus. Irgend so ein komischer Ventilmechanismus. Auch weit hergeholt. Jedenfalls meint die Autorin, damit erklären zu können, womit all die Sichtungen des Ungeheuers in historischer Zeit zu tun haben könnten. - Naja."

"Die spinnt." sagte das Mädchen.

"Jaja. - Wahrscheinlich hast du recht. - Aber wenn ich so daran denke - eine unberührte Welt unter unseren Füßen. Wie ein ferner Planet. Manchmal denkt man, was wenn - Du hast sicher recht: die spinnt. - Wo bleibt jetzt unser Boot?"

Die Besorgnis war nicht echt. Jedenfalls nicht sehr. Es gibt wenig, was dem Boot gefährlich werden konnte. Es konnte zum Beispiel in einen Hangabrutsch geraten, den es eventuell selbst ausgelöst hatte. Das war ein Restrisiko. Es konnte mit einem Tier aneinander geraten - wenn es auf diese Weise verloren gehen sollte, dann konnte man das sogar als Erfolg werten. Andererseits wollten sie ja die Bilder haben, und dazu war es notwendig, daß das Boot auftauchte und diese übertrug.

"Wie spät ist es?" fragte der alte Mann.

"Drei. Drei Uhr in der Früh."

"Bist du müde?"

"Nein." log das Mädchen.

"Wir können in einigen Tagen nochmal hierherkommen und einen neuen Versuch starten!"

Das Mädchen sagte nichts. Falls sie im Dunkeln gähnte, konnte man es nicht sehen.

"Okay. Ich hol es hoch." Der alte Mann drehte die Intensität des Bildschirmes etwas höher, damit er die Tastatur besser sehen konnte. Dann gab er den Befehl zum Auftauchen ein. Dieser Befehl wurde von nun an solange wiederholt, bis der Kontakt mit dem Boot wieder hergestellt war und das Boot den Befehl quitiert haben würde.

Minuten vergingen. Es geschah nichts. Das war merkwürdig: Entweder, das Boot empfing den Befehl - dann sollte es auftauchen. Oder es empfing ihn nicht. Dann mußte es von sich aus auftauchen. Auch aus einer Tiefe von über 230 Metern durfte das nicht länger als einige Minuten dauern.

"Was passiert, wenn das Boot irgendwo festhakt?" fragte das Mädchen.

"Wenn der Druck noch über ein Bar ist und sich einige Zeitlang nicht vermindert, dann wird die gesamte Preßluft in die Schwimmtanks gelassen. Wir müßten es dann sofort an Land holen."

"Und wenn es dann trotzdem noch festgehalten wird?"

"Dann bauen wir ein neues!" Der alte Mann fand diesen Gedanken aber nicht lustig.

Weitere Minuten vergingen. Es gab keinen Sonarkontakt, und nirgends auf dem See hörte man etwas ungewöhnliches.

"Vielleicht kommt der Befehl verstümmelt an." sagte der alte Mann und stellte den Sender einfach aus. Er glaubte nicht so recht daran: die Redundanz der Befehlssequenzen war zu hoch. Im Geiste ging er die Moduln der Betriebssoftware durch. Es bestand natürlich immer die Möglichkeit, daß der Bordrechner abgestürzt war und so das Boot überhaupt nicht mehr in der Lage war, irgend etwas vernünftiges zu tun. Das hatte er sich dann selber zuzuschreiben.

"Halb vier." sagte das Mädchen, "Es muß bald hell werden." Sie gähnte hörbar.

Der Nebel hatte das Ufer erreicht, und die ganze Welt war nun tiefdunkelgrau vor ihnen und schwarzgrau hinter ihnen. Der Wind war zum Erliegen gekommen, und das Glucksen der Wellen zwischen den Ufersteinen flaute immer mehr ab.

Auf dem Bildschirm sprang ein neues Fenster auf. "Sonarkontakt!" rief der Mann, "Es funktioniert noch!" Er laß die Werte ab: "Das ist doch unmöglich!"

"Was?" fragte das Mädchen.

"Sieh doch: 1060 Meter!"

Mit fliegenden Fingern rollte er die anderen übertragenen Meßwerte durch das Fenster. "Stimmt. Da. Stimmt alles. Innendruck auch. Aber wie kann das sein? Der Caledonische Kanal läßt das nicht zu - selbst, wenn man alles Grundgeröll aus dem Loch Ness herausräumt, dann käme man höchstens 600 Meter tief!"

"Dann haben wir etwas gefunden!" sagte das Mädchen und hatte völlig vergessen, daß sie eigentlich müde war, "Es hat ein Loch gefunden, und es ist hineingetaucht. Einfach so!"

"Aber wir haben die Sendung doch schon eine ganze Weile eingestellt! Es muß doch sofort aufgetaucht sein! Es muß - nein, Moment, wenn es schon zu tief war, dann reicht die Preßluft nicht mehr. Dann müßte das Wasser sogar schon im Druckkörper sein. So tief - dann kann es nicht mehr auftauchen."

"Es sinkt immer noch!" sagte das Mädchen.

"Ich sehe es. - Tja, ich glaube, dann kriegen wir es nicht zurück. Aber immerhin - wir haben etwas gefunden! 1080 Meter jetzt. Unglaublich."

"Und keine Bilder mehr?"

"Wie denn? Ohne Auftauchen keine Übertragung. Wahrscheinlich ist die Kamera auch schon im Wasser, weil sie ganz unten im Rumpf ist - die ist längst hin. Es ist überhaupt ein Wunder, daß die Sonarwellen bis zu uns kommen. - Es muß eine Art Höhle sein!" Er schaltete den Sender wieder ein.

"Hat es denn wenigstens versucht, aufzutauchen?"

"Das verrät es erst, wenn der Kontakt in beiden Richtungen wiederhergestellt ist. Es hört uns offenbar nicht. Siehst du? - Keine Reaktion. - 1100 Meter."

"Es liegt schief." stellte das Mädchen fest.

"Sehe ich. Wenn schon Wasser im Druckkörper ist, dann kann es überhaupt nicht mehr vernünftig manövrieren. Ein Wunder, daß überhaupt noch etwas funktioniert."

"Du hast doch alle blanken Kontakte lackiert, denke ich!"

"Ja, schon. Aber so etwas schafft man nicht hundertprozentig. Und bei dem Druck schon gar nicht. - Merkwürdig - es schwankt stark. Als ob es durchgeschüttelt wird! - Und es wird wärmer."

"Was heißt das?"

"Erstmal nichts. Tiefer in der Erde wird es eben wärmer. Das paßt schon zusammen. Schau dir das an: 1250 Meter!"

Die nächste Lageangabe zeigte, daß das Boot auf dem Kopf stand.

"Jetzt ist alles schon mal benetzt worden." sagte der alte Mann. "Daß die Elektronik das aushält. - Daß sie das aushält!"

Er wünschte sich, er hätte seine Entwicklungsunterlagen hier. Es paßte alles nicht zusammen - in einer solchen Tiefe sollte das Boot eigentlich überhaupt nicht mehr funktionieren können. Er sah auf dem Bildschirm auch, daß die Übertragung sehr stark gestört war, und das paßte ja auch zusammen: Vielfache Reflektionswege. Interferenzen. Wenn da wirklich ein tiefes Loch am Grunde des Sees - das konnte einfach nicht sein. Es hätte längst zugeschüttet sein müssen, im Laufe der Jahrmillionen. Der Caledonische Kanal war ja so alt.

"Als ob es hin- und hergeschüttelt wird!" sagte das Mädchen. Alle Müdigkeit war nun restlos von ihr gewichen.

"Was sollte es hin- und herschütteln?" Rhetorische Frage. Die Reputation dieses Sees beantwortete sie von selbst. Und andere, 'vernünftige' Erklärungen ließen sich auch finden. Man bräuchte bloß die Reste des Bootes, um sie untersuchen zu können. Aber so, wie die Dinge lagen, würde er die nie zu Gesicht bekommen.

Die Sendungen brachen wieder ab. Als nach mehreren Minuten immer noch kein Kontakt wiederhergestellt worden war, fragte das Mädchen: "Können wir nicht mit mehr Sendeleistung ..."

"Ich bin schon am Anschlag. Mehr geht nicht. Außerdem müssen wir auf die Batterien achten." Das letzte stimmte nicht unbedingt. Für den Rest der Nacht war noch reichlich Accustrom vorhanden.

Dann geschah, womit sie nicht mehr gerechnet hatten: Aus der Richtung, die ungefähr Westen sein mußte, drang ein Rauschen zu ihnen. Wenig später stand der Sonarkontakt wieder.

"170 Meter!" Der alte Mann war überrascht. "Jetzt 160! Es taucht auf. Aber wie hat es so schnell von 1100 Meter ..."

Die Bitfehler, dachte er. Das muß es gewesen sein. Laufzeitunterschiede, dasselbe Signal, bitverschoben mit sich selbst einem interessanten boolsch'en Operator unterworfen. Die Redundanzinformationen mußten einfach so manipuliert worden sein, daß sie wieder in sich konsistent waren. Er wußte, daß sie auch dort nicht zuviel Programmieraufwand investiert hatten. Kein Cyclic Redundancy Check, oder wie dieses Verfahren heißt. Einfache Prüfsummen, bitweise ge'xor't. Diese Sicherung war einfach nicht sicher gewesen, was derartige Informationsverfälschungen betrifft.

"Es hat es wieder ausgespukt!" meinte das Mädchen.

"So? Wer hat es wieder ausgespuckt?" Nun waren es noch weniger als 100 Meter bis zur Oberfläche. Er glaubte immer weniger daran.

"Na, das Monster!"

Das werden wir gleich sehen, dachte er. Wenn das Boot wirklich vorübergehend in einer Tiefe von mehr als einem Kilometer gewesen war, dann sollte jetzt einiges schwer beschädigt sein, mit oder ohne Monster. Gleich, bei der Übertragung der Bilder, würden sie es erfahren. Dann zuckte er zusammen:

"'AUX AIR ZERO'!" laß er, "Die Preßluft ist alle!"

Also doch? Nach einem normalen Tauchvorgang sollte da noch reichlich Preßluft übrig sein! - Naja, jedenfalls war das Boot auf dem Weg nach oben. Es sah auch nicht so aus, als ob die Auftauchgeschwindigkeit abnahm. Und es lag auf vollkommen ebenem Kiel.

Wenig später war es so weit. Das Rauschen und Blubbern aus dem Westen erstarb. Die Werte zeigten die Wassertiefe Null an. Der alte Mann drehte den Bildschirm heller, bevor er die elektromagnetische Verbindung aufbaute und die Datenübertragung startete. Sofort sah er, daß etwas nicht stimmte:

"Die Sendeleistung ist schwach!" stellte er fest, "das kann eigentlich nicht sein! Läuft der Recorder?"

"Türlich. - Batterien vielleicht alle?" fragte das Mädchen, "Oder kaputt?"

"Kaputt - vielleicht. Leer können sie noch nicht sein. - Vielleicht liegt das Boot tief im Wasser, und die Antenne ist teilweise kurzgeschlossen. - Ja, so muß es sein. Sieh her: Die Sendeleistung schwankt."

Nichtdestoweniger sahen sie die übertragenen Bilder immer noch rauschfrei. Mit den Zusatzdaten in der Fußzeile wußten sie genau, wann sie aufgezeichnet worden waren.

"Nix." sagte die Lydia.

"Wir sind noch auf dem Weg nach unten. Warte noch!" Während der folgenden, ereignislosen Minuten klebten seine Augen mehr am Indikator für die Sendeleistung des Bootes als am eigentlichen Bild, das nur wesenloses Braun zeigte - das trübe Wasser des Loch Ness, das von den schwachen Scheinwerfern des Bootes nicht durchdrungen werden konnte. Auch die Tonaufzeichnung bestand nur aus elektronischem Rauschen - also Stille. Die Sendeleistung fuhr fort, zu schwanken, aber es gab einen deutlichen Trend: Das einfallende Signal wurde langsam schwächer.

Das Boot 'machte Wasser', in diesem Augenblick, während es die gespeicherten Aufnahmen übertrug!

Auch die Lydia merkte es. Sie sagte nichts. Beide wußten gut genug: das Boot war definitiv beschädigt. Sowie es wieder unterschneiden würde, würde die Sendung abbrechen, und das, was sie bis dahin aufgezeichnet hatten, würde ihre ganze Ausbeute sein.

220 Meter, zeigte die Unterzeile zu den aufgezeichneten Bildern an. Wenig später 230 Meter. Immer noch nichts. Jetzt mußte bald der Zeitpunkt kommen, an dem sie den Kontakt verloren hatten.

Horizontale Rauschschleier überzogen das Bild, verschwanden wieder. Zeitgleich schwoll das Rauschen im Lautsprecher an und nahm dann wieder ab. Wenig später geschah dasselbe noch einmal. Dann, als das Bild wieder klar wurde, tauchten unklare Formen auf. Bewegten sich. Weil sich das Boot bewegte? Wieder verrauschte Bild und Ton. Da war noch der Eindruck einer heftigen Bewegung in der Bildmitte, aber man konnte sich nicht sicher sein. Das Rauschen nahm weiter zu.

"Es ist schon wieder unter Wasser." stellte der alte Mann fest. Die Sonarsignale kamen noch durch, so daß sie die langsame Tiefenzunahme verfolgen konnten. Die Intensität des empfangenen elektromagnetischen Signals nahm rasch bis auf Null ab.

"Das war's dann." Das Boot war auf seiner letzten Tauchfahrt. Gerade eben hatte es sein Geheimnis nicht herausgerückt - es nahm die letzten Bilder mit nach unten, sendete sie wohl auch noch, aber die elektromagnetischen Wellen erwärmten nur noch das Wasser des Sees. Zwar quitierte es nach wie vor alle Steuerbefehle, aber es war eben keine Preßluft mehr da. Die Sinkgeschwindigkkeit nahm zu. Außerdem torkelte es, was es beim Auftauchen noch nicht gemacht hatte.

Als es gerade 60 Meter erreicht hatte, verstummten auch die Sonarsignale endgültig.


Es wurde schon hell, als sie alle Geräte eingepackt hatten. In mehreren Schüben brachten sie Computer, Batterien, Sender und Empfänger, Campingstühle und Verpflegung zum Tor des Friedhofes von Foyers, um es dort in einem Leiterwagen zu verstauen. Nur damit war es möglich, die Ausrüstung über den Friedhof zum Loch hin und zurück zu transportieren, ohne die Einwohner von Foyers mehr als notwendig zu verstimmen. Bei dem Nebel würde sie jetzt sowieso niemand sehen, wenn sie nur leise genug waren. Außerdem war es ja noch so früh.

Die Lydia war aufgekratzt. Eine Mischung zwischen Faszination vor dem Unbekannten und Müdigkeit. Ständig malte sie in neuen Versionen aus, was dem Boot passiert sein konnte, da unten, einen Kilometer unter der Wasseroberfläche. Sie machte auch Pläne für ein neues Boot, und dafür, das alte zu heben, um es zu untersuchen. Viele Pläne - sie hätte die ganze NASA beschäftigen können, wenn man sie gelassen hätte, und mindestens ebensoviel Geld ausgegeben.

Der alte Mann dachte auch nach, redete dabei aber nicht so viel. War das Boot überhaupt so tief gewesen? Und wenn es gar nicht so tief war und nur eine unglückliche Signalverzerrung eine Zeitlang ihnen diese Meßwerte vorgegaukelt hatten, was hatte dann das Boot beschädigt? Wo war die Preßluft geblieben? Was war es gewesen, was, kurz bevor die Übetragung endgültig abbrach, auf dem Bildschirm zu sehen war? Welche Softwarefehler hatten eventuell das Ergebnis beeinflußt?

Mit dem Plänemachen hatte er es nicht ganz so eilig wie das Mädchen. Er bezweifelte, daß er noch einmal ein Boot wie dieses bauen konnte, selbst, wenn er sich an die vorhandenen Pläne hielt. Aber während sie an Lower Foyers vorbei marschierten, über die einsturzgefährdete Brücke über den River Foyers hinweg und den langen Weg bis zu ihrem Bed & Breakfast im 'Intake House' in Upper Foyers, die Lydia immer vorneweg und unentwegt plaudernd, er hinterher, den Leiterwagen ziehend, wurde ihm klar, daß er daß Problem gar nicht selbst weiterverfolgen mußte.

Der Virus der Neugier hatte die Lydia fest im Griff. Und das ist ein gefährlicher Virus. Unheilbar. Und dies Mädchen hatte alle Voraussetzungen: Programmieren, Drähte abisolieren und einfache Widerstandsnetzwerke berechnen konnte sie jetzt schon. In zwei Jahren würde sie wissen, was in den Maxwellschen Gleichungen drin steht und was man unter dem Bändermodell in der Halbleiterphysik versteht, wie man eine Diffusionspumpe zerlegt und ein Vakuumrohr anflanscht, in vier Jahren würde sie ihr CAD-System und ihre C++-Entwicklungsumgebung im Schlaf bedienen können, in sechs Jahren würde sie schon ihren dritten Computer, von jetzt an gerechnet, haben und mit jedem Bit des Betriebssystems auf 'Du' stehen. In acht Jahren würde sie selbst ein Betriebssystem geschrieben und ein Layout für ein Motherboard gemacht haben. Wahrscheinlich würde sie dann schon die ersten Semester ihres Studiums in Göttingen oder Clausthal hinter sich haben.

Es würden keine zehn Jahre vergehen, und sie würde sich ein eigenes Boot gebaut haben. Selbstverständlich würde er ihr die ganze Zeit mit fachlichem Rat zur Seite stehen, wenn sie ihn fragen sollte, und er würde den Mund halten, wenn sie ihn nicht fragen sollte. Es würde ja ihr Projekt sein.

Die ersten Tests würden vielleicht in den Harzseen oder in der Okertalsperre stattfinden. Dann aber würden sie wieder nach Schottland fliegen, und er würde sich etwas mehr in der Zuschauerrolle zurechtfinden müssen. Dann würde sein Boot, im Nachherein, sich doch noch bezahlt gemacht haben.

Ihm war das nur zu recht. Sein Boot mochte nun da unten liegen. Aber er hätte es immer noch ganz gerne gewußt, was sich da vor einigen Stunden abgespielt hatte. Er hatte das Gefühl, daß seine Chancen, es doch noch irgendwann zu erfahren, gar nicht so schlecht standen.

Einen Moment lang hatte er eine Vision - wie sie da beide gingen, zurückgekommen von einer glücklosen Jagd, geschlagen, aber nicht vernichtet, so waren schon vor Zehntausenden von Jahren Jagdgruppen zurückgekommen. Niemals konnte man wissen, ob die nächste Jagd erfolgreich sein würde, aber Jagdinstinkt und Hunger würden sie immer wieder hinaustreiben. Er spürte jetzt diesen Jagdinstinkt. Die Lydia spürte ihn. Kollegialität mit den Eiszeithorden. Ihr, damals, dachte er, das Mammuth und den Säbelzahntieger. Ist unser Ziel vielleicht geringer? Ihr mit Keule und Steinaxt. Wir mit Videokamera und Computer. Aber dieselbe Gier. Jagen und zur Strecke bringen. So viele Jahrtausende. Als ob es nur auf uns gewartet hätte. Nun gut, diese Nacht hat es noch nicht sein sollen. Aber schlafe nicht zu ruhig, du da unten, im deinem trüben Moorwasser - die Luft riecht nach Erfolg. Der Ring schließt sich.

Wir kriegen dich noch!


© 1996 .. 1999 Josella Simone Playton 1999-07-02 22:55:55 MESZ


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