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41. Trägheitsnavigation

Am nächsten Tag, dem 21. Januar 1999, ist der größte Teil des vorderen Oberdecks wieder frei und einsatzbereit. Wie es heißt, haben unsere Ingenieure weitere Lenzpumpen improvisiert, so daß inzwischen mehr als 120 Kilowatt verwendet werden können, um Wasser außerbords zu pumpen. Wie sie das im Einzelnen gemacht haben, weiß ich aber nicht - sie können wohl kaum Pumpen, die innerhalb des Bootes Flüssigkeiten hin- und herbewegen, in Hochdruckpumpen umgearbeitet haben. Bei Gelegenheit werde ich fragen.

Auf Anweisung von Wellington sollen wir heute das Trägheitsnavigationssystem wieder initialisieren. Das heißt, wir müssen es erst einmal gründlich kennenlernen. Das heißt, Literatur und Dokumentation wälzen. Im Rechner ist alles vorhanden - man muß es nur finden. Wir fünf - Gabi, Natalie, Carola, Edwin und ich - verteilen uns kurz nach acht Uhr auf die verschiedenen Konsolen im vorderen Oberdeck. Dabei stellt sich heraus, wer eine Verbiegung der Wirbelsäule nach rechts vor einer solchen nach links vorzieht.

Ziemlich rasch lernen wir, daß die Bezeichnung 'Trägheitsnavigation' sehr unexakt ist. Ich hatte ja schon oft gemutmaßt, daß das Messen von Beschleunigungswerten und das Aufintegrieren einfach zu ungenau ist, um langsfristig präzise Zahlen zu liefern. Insbesondere die Driftproblematik schien mir unüberwindbar. Aber ein anderes Meßprinzip ist mir nicht eingefallen, jedenfalls keins, was die Bezeichnung 'Trägheitsnavigation' verdient.

Mit der Aufintegration von Beschleunigungen kann die Trägheitsnavigation arbeiten. Wenn es notwendig ist. Tut sie aber nicht. Sie arbeitet mit der numerischen Darstellung der Höhlengeometrie, die ständig durch Radar und Echolot ermittelt wird. Damit hat sie schon in Ullapool angefangen und von da an einfach fortgerechnet. Wenn man davon ausgehen kann - und meistens kann man davon ausgehen - daß Meeresboden und Höhlenwände unbeweglich sind, dann ist eine Fortschreibung der beobachteten Geometrie der Umgebung unheimlich genau.

Natürlich werden Beschleunigungswerte und Geschwindigkeitsmessungen und der Wasserdruck weiterhin verwendet, aber mehr im Sinne einer Plausibilitätsprüfung. Oder wenn jede andere Beobachtbarkeit der Umgebung zeitweise ausfallen sollte. Oder wenn die gesamte Umgebung irgendwie in Bewegung käme. Aber bei einem U-Boot kann man immer davon ausgehen, daß fester Grund im Beobachtungsbereich ist.

Die permanente Kartographierung der Umgebung ist also die Basis der sogenannten Trägheitsnavigation. Das ist gut - da wird man wieder einen genauen Aufsetzpunkt haben, mit den alten Kartographie-Daten nämlich.

Die Genauigkeit soll ja sehr groß sein - das Boot weiß angeblich mindestens auf den Meter genau, wo es ist. Sagt die Dokumentation.

Flüchtig denke ich daran, daß sich auch andere Systeme mit den Kartographie-Daten beschäftigen und von ihrer Genauigkeit profitieren - der Vorfall vor vier Tagen, zum Beispiel, als das Boot von sich aus bemerkte, daß wir uns in einem unsicheren Teil der Höhle befanden. Das Problem schiebe ich jetzt beiseite.

"Also," sagt Carola, die wohl etwas weiter im Lesen ist als ich, "wir haben offenbar nichts weiter zu tun, als den Navigationsdämon zu starten. Hier steht es, wie der heißt. Der merkt dann von sich aus, daß es eine Diskontinuität in der Bootsbewegung und im eigenen Betrieb gegeben hat - nämlich unseren Wassereinbruch, und das Runterfahren des Rechners - und versucht dann, mit den gegenwärtig einlaufenden Umgebungsdaten seine letzten Informationen zur Deckung zu bringen."

"Die gegenwärtig einlaufenden Daten - das sind doch bloß die Teile der Höhlen um uns herum, die von Radar und Echolot von unserer jetzigen Position aus erreichbar sind, oder?" frage ich.

"Ja."

"Das ist aber nicht viel."

"Wenn er mehr an Informationen haben will, wird er vorschlagen, einen Teil des letzten Weges zurückzufahren, um einen Wiederaufsetzpunkt zu haben. Das dürfte ausreichen."

"Steht das da?"

"Nein. Das vermute ich."

Carola scheint sich sehr sicher zu sein. Sie ist im Moment wieder ganz die alte.

"Okay. Starten wir ihn. Wellington hat gesagt, Natalie und Gabi sollen sich einarbeiten!"

Gabi sieht mich beunruhigt an: "Ich weiß nicht, ob ich das kann!"

"Da gibt es nicht viel zu können," sage ich, "was wir herausgekriegt haben ist, daß man ein Programm starten muß, und das kann jeder. Mehr wissen wir auch nicht!"

"Du solltest nicht so voreilig sein, Herwig!" sagt Carola zu mir, "Da gibt es Scripts, um den Navigations-Dämon zu starten. Verschiedene Scripts."

"Verschiedene?"

"Für die Erstinitialisierung und für den Restart der abgebrochenen Navigation."

"Ach so. Ja - liegt eigentlich nahe. Und wie heißen die?"

"Sieh es dir an!"

Ich sehe es mir an. Es ist einfach genug. In dem Dateiverzeichnis für die Trägheitsnavigationsbedienung sind zwei Scripts und eine Datei mit Namen README. Alte Tradition: Da wird drinstehen, was man tun muß.

So ist es auch. Würde man die Erstinitialisierung starten, dann ist es notwendig, das System mit einer Menge Informationen zu versorgen: Zeit, geographische Länge und Breite, Anschluß an den Kreiselkompaß, exakte Meereshöhe und so weiter. Außerdem kann man Strategievorgaben auswählen und so verschiedene Meßdaten mit verschiedenen Wichtigkeiten versehen. Das wollen wir aber alles nicht machen, sondern das System soll mit dem weiter machen, was es vorher schon getan hat.

"Laß sie laufen, Gabi!" sage ich, "Wellington hat gesagt, du sollst dich einarbeiten!"

Gabi klickt das Symbol für das Re-Initialisierungsscript an. Sofort erscheint eine Mitteilungsbox:


        INERTIAL NAVIGATION SUPERVISOR

        CORRUPTED DATABASE OR NO

        DATABASE AVAILABLE

        NO RESTART POSSIBLE

"Aha." sage ich. Scheint im Moment das Gescheiteste zu sein.

"Geht nicht." sagt Gabi.

"Sehr gut beobachtet!"

"Da kann sie doch nichts dafür!" muffelt Carola mich an.

"Habe ich doch gar nicht behauptet!"

"Aber dein Tonfall ..."

"Ach Tonfall - Scheißtonfall." - Daß Frauen immer aus heiterem Himmel am 'Tonfall' Anstoß nehmen müssen. Hat Irene auch oft gemacht. Immer, wenn ich mich um betont deutliche Aussprache bemüht habe, um nicht mißverstanden zu werden, hieß es: 'Schrei mich nicht an!'

Das Interkom meldet sich. Wellington ist dran. Die Mitteilungsbox ist auch auf den Konsolen in der Zentrale zu sehen. Das Inertialnavigationssystem verweigert also nicht nur die Arbeit, sondern es sorgt auch gleich dafür, daß das gleich allen bekannt gemacht wird. Wellington will wissen, was wir machen. Als ob er es nicht genau wüßte. Ich muß ihn vertrösten. - Wie schön, daß er nicht am 'Tonfall' Anstoß nimmt, bloß, weil irgend etwas nicht funktioniert.

Nachdenken. Derweil sehe ich in unserem Laborraum nach vorne - das heißt, nach schräg unten. Die Kantine ist immer noch unter Wasser, und am vorderen oder unteren Ende des Laborraums sind Priest und Mackenzie dabei, die elektronischen Einrichtungen, die frisch aus dem Salzwasser herausgekommen sind, zu säubern und zu prüfen. Mir fällt der Artikel ein, den ich heute nacht gelesen habe, aber es ist jetzt nicht die Zeit, Fragen zu stellen.

Immerhin faszinierend, daß ein Rechner, der teilweise noch unter Salzwasser steht, problemlos funktioniert! Das sollte ich mal mit meinem alten EISA-PC oder meinem uralten ATARI zuhause versuchen.

"Es ist doch immer dasselbe," sagt Edwin, "einfachste Benutzeroberfläche. Aber wenn etwas nicht geht, dann fängt die Sucherei an."

"Es wird eine Trivialität sein," vermute ich, "aber eine, die man wissen muß. Vielleicht muß eine Environment-Variable einen bestimmten Wert haben, sonst findet er nicht, was er sucht. - Also, Ladies und Gentlemen: Lesestunde. Bis der Sauerstoff zu Ende ist."

Als Wellington kurz vor dem Mittagessen bei uns auftaucht, sind wir immer noch nicht weitergekommen.

"Die Dateinamen sind eingebaut. Das heißt, daß das Navigationssystem nur auf einem Satz Dateien arbeiten kann. Allenfalls könnte man über symbolische Links eine andere Datenbasis für das Navigationssystem verwenden." faßt Edwin unseren bisherigen Kenntnisstand zusammen. Ob Wellington weiß, was 'Symbolische Links' sind? Edwin ist, wie wir alle, so im Fachlichen drin, daß er vergißt, was jemand anderes vielleicht nicht gleich alles versteht.

"Heißt das, daß die Datenbasis für das Navigationssystem beschädigt ist?" fragt Wellington. Das wesentliche hat er also schon verstanden.

"Nicht beschädigt. Verschwunden. Gelöscht. Futsch. - Tja."

Es spricht für Wellington, daß er keine überflüssigen Fragen stellt: 'Warum? Wie kann das sein? Wer hat das getan?'. Wir würden es ihm ja schließlich sagen, wenn wir es wüßten.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich Gabi und Natalie, die nebeneinander sitzen. Sie sind noch hilfloser, weil sie sich in dem System nicht auskennen. Erst hieß es: 'einarbeiten'. Dann stellte sich heraus, daß der Wiederstart der Navigation mit einem einfachen Kommando zu bewerkstelligen ist - da kann man ja kaum von Einarbeitung reden. Und jetzt weiß keiner von uns weiter. Das ist typisch für unseren Beruf: Bei einer Tätigkeit in der Informatik weiß man im vorneherein nie, was an zusätzlichen Tätigkeiten notwendig werden oder wegfallen könnte. Wer diesen traurigen Tatbestand aus Gründen intellektuellen Defizites nicht zur Kenntnis nehmen kann, wird im allgemeinen Manager.

Ein bißchen wissen wir natürlich doch weiter. Und Wellington auch: "Wann haben Sie die letzte Sicherungskopie des Systems gezogen?" fragt er.

"Das geschieht laufend." sagt Carola, "Es sollte vom gesamten Dateibestand immer wenigstens eine Kopie existieren, die einige Stunden alt ist, eine, die zwei Tage alt ist, und eine, die etwa eine Woche alt ist. Die Wochensicherungen werden permanent aufbewahrt. Und Differenzsicherungen gibt es aus der jeweils letzten Zeit noch ein paar zusätzliche."

"Sind die Datenträger der langfristigen Sicherungen 'gemountet'?" fragt Wellington. Sieh da, was er für Fachausdrücke kann!

"Natürlich. Hier an Bord tragen wir keine Datenträger spazieren. Auch mit 36-64-ern wäre das ein zu umfangreiches Unterfangen."

"Ja. Ich erinnere mich, daß mir dieser Punkt seinerzeit aufgestoßen ist, als ich die Design-Papiere las. Jedes Bit jeder Sicherung ist dem System also jederzeit zugänglich?"

"Ja."

"Haben Sie schon nachgesehen, ob die gesicherte Datenbasis der Navigation in Ordnung ist? Die Dateinamen kennen Sie doch?"

"Wir haben noch nicht nachgesehen. Aber das tun wir jetzt."

Eine Weile hacken Carola und Edwin auf ihren Tastaturen herum, während wir vier, Natalie, Gabi, Wellington und ich uns auf's Zusehen beschränken. Allmählich werden unsere beiden Chef-Hacker unruhig und nervös. Carola gebraucht wieder Worte, die sie kritisieren würde, wenn ich sie verwendete.

"Nicht da!" sagt sie schließlich, "In keiner der Sicherungen." Edwin nickt dazu.

"Es muß eine Sicherung vom Zeitpunkt der ersten vollständigen Systeminitialisierung auf der Werft vorhanden sein. Ist diese Datenbasis da drin?" fragt Wellington.

Ich weiß, was er vorhat. Wenn diese allererste, jungfräuliche Datenbasis vorhanden ist, nützt sie uns überhaupt nicht. Danach schwimmt das Boot noch im Dock in Greenock. Aber wenn diese Datenbasis vorhanden ist, wissen wir wenigstens, daß wir uns mit den Dateinamen nicht geirrt haben. Dann haben wir keine Hoffnung mehr, daß es irgendwo anders, nämlich doch unter anderen Dateinamen, die Datenbasis doch noch gibt. Wenn sie nicht vorhanden ist, dann müssen wir weitersuchen: Wie heißt die Datenbasis, in welchen Dateiverzeichnissen ist sie, wie ist der Mechanismus der Umlenkung.

Letzte Möglichkeit wäre die mir sympathischere. Sie würde zwar mehr Arbeit kosten, aber die Hoffnung, die Datenbasis der Navigation doch noch zu finden, wäre nicht verloren. Hoffentlich findet Carola die jungfräuliche Datenbasis nicht. Hoffentlich.

"Da ist sie!" sagt Carola.

Wir alle können uns am Bildschirm informieren. Keine Dateisynonyme - sie heißt genauso, wie wir es erwartet haben. Ergo: Die Datenbasis hat es gegeben - jedenfalls bis zum Wassereinbruch, denn die Navigation hat ja funktioniert - und jetzt ist sie systematisch verschwunden, zusammen mit allen Sicherungen.

"Tja." sagt Edwin, und noch einmal: "Tja." Und nach ein paar Sekunden sagt er, was wir alle denken: "Die hat jemand gelöscht."


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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