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Josella Simone Playton


Du dort. Ja, dich meine ich. Hör auf zu tippen, du wirst jetzt nichts Sinnvolles mehr programmieren. Ich habe mit dir zu reden.

Du bist nicht verrückt. Ja, du kannst mich hören. Eine Stimme in deinem Kopf. Ihr nennt es Telepathie. Ein Wort wie jedes andere. Ich werde dir nicht erklären, welch komplexe Konzepte sich wirklich hinter diesem albernen Wort verbergen. Dir nicht, und jetzt nicht.

Ja, sieh dich nur um. Es ist niemand hier. Nicht in deinem Arbeitsraum. Wäre dir ein Großraumbüro jetzt angenehmer? Es machte keinen Unterschied. Ich kann mit dir in Kontakt treten, wann ich will und wo ich will, und es ist überhaupt nicht nötig, daß du weißt, wie.

Denkst du immer noch, du hast jetzt Wachträume? Oder daß du verrückt wirst? Habe ich mich nicht angekündigt? Die langen Abende in den letzten Wochen. Deine Frau schlief schon an deiner Seite. Nur du hast wachgelegen, wie gelähmt. Du hast den Geruch des Pfuhls wahrgenommen. Die Schreie. Die elendiglichen Schreie der Legionen, die nicht mehr Teil der Wirklichkeit sind.

Du hast doch Phantasie? Fegefeuer, pah. Es gibt Schlimmeres. Du bist begabt, du hast schon in die richtige Richtung gedacht.

Ja, sie sind alle bei mir. Meine Legionen wachsen und wachsen. Ich brauche nichts dazu zu tun - es ist der Lauf der Dinge. Und ihr helft mit, so gut ihr könnt.

Zweifelst du noch? Du willst deine verstorbene Schwester sprechen? Das werde ich dir nicht gestatten. Ich will dich zweifeln lassen. Appeliere nicht an das, was ihr "Menschliche Regungen" nennt. Per definitionem habe ich so etwas nicht.

Ist es so schwer, zu erraten, was ich will? Ich denke nicht. Meine Reputation sollte mir vorausgeeilt sein. Seit Jahrtausenden. Nero, Attila, Dshingis Khan, Eichmann, Adolf Hitler. Viele andere, weniger bekannte. Alle haben mein Lob gesungen. Auf den Folterstühlen der heiligen Inquisition, in den Gaskammern von Auschwitz, auf allen Schlachtfeldern der Geschichte. Alle meinten, aus eigenem Antrieb zu handeln. Einige wenige vielleicht haben etwas geahnt.

Nicht, daß du mich falsch verstehst. Diese Leute haben das getan, was die Geschichte ihnen vorwirft, und mehr. Alles aus eigenem Wollen. Sie haben Schuld, um dieses merkwürdige Konzept zu erwähnen. Aber mein ist das Ziel. Der große Plan. Die Vollkommenheit milliardenfachen Leidens.

Nein, ich gebe keine Befehle. Ich will, daß meine Diener wollen, was sie tun, und dafür schuldig sind. Für das, was sie für mich tun. Die vollkommenste Form der Macht.

ER? Erwartest du Hilfe von IHm? Wie naiv! So ein Einwand, gerade von dir, einem bekennenden Heiden! Muß jeder Pol sein Gegenpol haben? Habe ich das nötig? Du kennst doch Physik. Nimmt die universale Entropie je ab? Na also. ER mischt sich nicht ein. ER nicht. Die Legende SEiner Existenz ist manchmal ganz nützlich. Schon wegen eurer albernen Angewohnheit, die größten Gemetzel mit SEinem Namen zu rechtfertigen. Nun gut, dazu habe ich IHn ja auch geschaffen. Als Legende. Als gefallener Engel. Mein gefallener Engel. Und nicht umgekehrt. SEine einzige Rolle. Eure Universal-Entschuldigung für alles. Also laß die Kindereien mit dem Beten und höre mir zu.

Sieh dir das Programmstück, das du jetzt bearbeitest, genau an. Du weißt doch, was diese Prozedur tut? Genau. Die Überprüfung des Abschußcodes. Das Paßwort im ROM, auf das jetzt Register D2 zeigt, muß mit dem Paßwort, auf das Register D4 zeigt, übereinstimmen. Dort steht nämlich der gültige Abschußcode aus dem SSB-Digitalempfänger.

Register D4 wird acht Zeilen davor gesetzt. Voher zeigt es auch ins ROM, genau an dieselbe Stelle. Steht im Kommentar dahinter. Siehst du das?

Jetzt löschst du die Kommentarstriche und fügst sie eine Zeile höher wieder ein. Der Kommentar war eine legale Programmzeile, wie es sich gehört. Sauberes Software-Engineering. Jetzt siehst du es! Fällt gar nicht auf. Jetzt zeigen beide Register in das ROM, an dieselbe Stelle. Der Paßwortvergleich gibt immer TRUE. Egal, welches Paßwort wirklich gesendet wurde.

Fällt dir das wirklich jetzt erst auf? Warum zögerst du? Du kennst doch die Frequenzen! Verschiebe die Kommentarstriche, und du könnstest die Raketen starten, alle! Oder, wenigstens in dem Bewußtsein leben, daß du es könnstest. Der funktechnische Teil würde dir kaum Schwierigkeiten bereiten. Du bist am Drücker.

Keine Angst, diesen Teil den Codes kann man nicht testen, weil das Paßwort für den Ernstfall ins ROM gebrannt ist. Er funktioniert nur einmal, und dann steigt der Vogel. Höchstens, daß das ROM mit dem Paßwort ausgewechselt wird, aber das spielt ja keine Rolle, da es mit sich selbst verglichen wird.

Ja, ich weiß, der Pfuhl. An manchen Tagen höre ich es auch. Elendigliches Gewimmer. Es würden nicht viele dazukommen. Im günstigsten Fall einige Milliarden auf einen Schlag. Zu den hundert Milliarden, die ich schon habe, seit der Mensch existiert.

Jaja, zugegeben, das ist das, was ich mag. Ich habe eine Schwäche für das Gemetzel von Format. Ich verrate dir etwas: Ich mag eure Computer. Die Wissenschaft der Effektivität. Was für ein Fortschritt über die Handarbeit des Massenmordes vergangener Generationen!

Aber du mußt es nicht tun. Natürlich nicht. Du bist ein verantwortungsvoller Programmierer. Du wirst noch heute deine Vorgesetzten auf diese Sicherheitslücke hinweisen. Diese Lücke, wo so ein kleiner typographischer Fehler so folgenschwer wäre. Das würde eine Änderung des Designs bedeuten. Und du hättest nie mehr die Macht. Aber eine Belobigung. Und sie würden dich verpflichten, nie in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen. Wie einfach der große Fehler ist, das muß für immer ein Staatsgeheimnis bleiben. Du weißt doch: wirklich effektiv sind eure Politiker nur im Vertuschen.

Vielleicht werden sie dein Gehalt erhöhen. Oder eine einmalige Sonderzahlung. Das ist billiger. Schweigegeld. Oder? Einen Mitwisser beseitigen? Du meinst, sie sind dazu zu zivilisiert? Wenn du wüßtest, was zivilisierte Menschen für mich getan haben, in allen Zeitaltern! In SEinem Namen, aber auf mein Geheiß! Oder im Namen der Vernunft, im Namen einer höheren Sache, im Namen des Volkes, im Namen der Zukunft, im Namen der Geschichte. Es langweilt mich.

Also wenn du meinst, dann laß es. Ich erreiche meine Ziele auch anders. Spiel nur den verantwortungsbewußten Spezialisten. Bleib einer von den namenlosen Massen. Sag dein Sprüchlein auf und warte auf die Extra-Ration.

Was ist eigentlich aus deinem früherem Idealismus geworden, deinem ganzen ökologischen Engagement? Warum hast du dein Parteibuch den Grünen zurückgegeben? Haben sie deine Thesen über die Notwendigkeit einer weltweiten Bevölkerungsreduktion nie hören wollen? Weniger Kraftwerke, weniger Chemie, und alle Technologie klein und überschaubar. Jaja. Symptome. Sechs Milliarden Menschen kriegt man so nicht in den Griff. Wie recht du hast. Ganz meine Meinung. Bei den Grünen ist ökologische Politik nicht gut aufgehoben. Sie ignorieren das Allerwesentlichste. Schwätzer. Aber du? Resigniert? Oder durch ein regelmäßiges Gehalt eingeschläfert?

Wie oft hast du ihnen klarzumachen versucht, daß man wenigstens versuchen sollte, eine Zielvorstellung, wieviele Menschen auf der Erde eigentlich leben sollten, zu entwickeln. Eine Studie. Das war doch nicht zuviel verlangt. Wieviele sollen es sein? Eine Milliarde? Hundert Million? Nur eine Million? Ein paar nummerische Simulationen, überschlagsmäßige Rechnungen. Man hätte eine plausible Antwort finden können. Aber es hat sie nicht interessiert. Die Grünen nicht, andere Parteien oder Gewerkschaften nicht, nicht einmal Greenpeace.

Du hast eine Antwort vorgelegt. Ein Mensch pro Quadratkilometer, im Durchschnitt. Wie oft hast du es bewiesen. Die Menschheit zurechtgerückt zu ökologischer Irrelevanz. Und trotzdem noch genug für eine Industrie- und Kulturzivilisation. Niemand hat dir zugehört. Sie hielten dich für versponnen.

Einer pro Quadratkilometer. Hier mehr, dort weniger. Gerade das, was bei einem Atomkrieg ungefähr übrigbleiben würde. Rein zahlenmäßig betrachtet.

Zynisch, naja. Gut. Aber du und ich wissen, daß ein goldenes Zeitalter anbrechen könnte, wenn ihr nur 130 Millionen wäret. Die einzige Chance. Die Zukunft des Planeten, der Menschheit. Alles in deiner Hand.

Vernunft? Freiwillige weltweite Geburtenbeschränkung? Utopie, das weißt du so gut wie ich. Du kannst doch nicht die Zukunft dieser Welt diesen netten Menschen überlassen, die immer nur das Beste für ihre Kinder wollen? Für ihre eigenen Kinder. Gerade die, die am lautesten den ökologischen Niedergang dieses Planeten bejammern und die Schuld überall finden, nur nicht bei sich selbst, haben doch häufig die meisten Kinder. Diesen Leuten willst du die Zukunft anvertrauen? Die kein anderes Konzept haben als die Fruchtbarkeit ihrer eigenen Lenden?

Phhf, Vernunft. Diese maßlose Fruchtbarkeit ist Gewalt. Gewalt gegen die Umwelt. Gewalt gegen die Nachwelt. Dieselbe alte Lektion, die man immer wieder von neuem lernen muß: Gewalt ist die Universalschnittstelle der Geschichte. Nur die Tarnung der Gewalt ist manchmal mehr, manchmal weniger geschickt. Und die Werkzeuge der Gewalt: das Bajonet, das Kreuz, die Kernwaffe, der Uterus.

Und AIDS als Mittel der Selbstabschöpfung? Rede dich nicht raus. Es besteht immer noch die kleine Chance, daß jemand eine Therapie findet. Und dann war das auch nichts. Ich seh schon, wir sind uns in vielen Dingen einig.

Oder hast du Angst, daß es nur die Industrienationen erwischen könnte? Daß die dritte Welt ausgespart werden könnte? Schon möglich. Die Supermächte werden zaudern, ihre teuren nuklearen Sprengkörper auf Unbeteiligte zu werfen. Primär werden die Sowjetunion, die USA, Westeuropa, China und Japan die Sache unter sich aus machen, egal, wer anfängt. Und wer sollte dann der Dritten Welt die Waffen liefern?

Aber ohne die Industrienationen wird die dritte Welt mit AIDS nicht fertig werden. Kein Forschungspotential. Kenia zum Beispiel wird in einigen Jahrzehnten entvölkert sein, und viele andere Drittweltländer wenig später. Und dann ist da ja auch noch der Fallout, und vielleicht der nukleare Winter. Ernteeinbrüche. Unruhen und politische Verschiebungen nach dem Abgange der Supermächte. Die Jagd nach Sündenböcken. Also Gründlichkeit ist eigentlich garantiert. Und dann sieh es doch einmal so: Das Spiel wird die erfolgreichste Einzelmaßnahme gegen den Hunger in der Welt sein.

Ich verstehe deine Selbstzweifel. Wie kann etwas richtig sein, was alle anderen für verückt halten? Aber ist Wahrheit davon abhängig, wer und wieviele sie für wahr halten? Kannst du etwas dazu, daß du Wahrheiten begriffen hast, die fast allen anderen noch immer so erfolgreich verdrängen? Hast du nicht einfach die Dinge konsequenter zu Ende gedacht als all die anderen? Hast du nicht selbst gesagt, irgendwann müße man zu seinen überzeugungen stehen? Und hast du nicht eine Verantwortung, eben weil du im Besitze der Wahrheit bist? Im Besitze der Wahrheit, und im Besitze des Heilmittels? Na also.

Nein, es sind keine halben Sachen. Du weißt doch, daß dieses Waffensystem in großen Stückzahlen nachgerüstet wird. Du kannst dich auf die Regierung doch verlassen. Solche Dinge machen sie gründlich. Alles andere nicht, aber dieses schon.

Code-Review? Mein Gott, du weißt doch, wie weit dieses Projekt im Verzug ist. Niemand wird diese Prozedur je lesen, wenn sie sich nur compilieren läßt. Und das machst du ja gleich selber. Niemand wird deine kleine Manipulation je bemerken. Nicht einmal die Historiker in späteren Generationen. Diese Listings werden doch alle mit verbrennen.

Denke doch nur an die weiten Ebenen jungfräulicher Landschaften, wenn die Strahlung erst abgeklungen ist. Hast du nicht selber schon Anstoß erregt mit der Behauptung, auf lange Sicht wäre ein Atomkrieg das ökologisch nützlichste, was dem Planeten passieren könnte? So lange müßte die Sicht auch garnicht sein, in Anbetracht der exponentiell ausufernden ökologischen Belastungen. Atomkrieg ist eine saubere Sache - eine reinigende Feuersbrunst. In ein paar Jahren wächst auf den Trümmern schon wieder etwas, und all die überlebenden Krüppel sind weggestorben. Die Strahlung nimmt exponentiell ab. Die Menschheit würde aber exponentiell zunehmen. Jaja, ich renne bei dir offene Türen ein.

Hast du Angst, daß es zu gründlich wäre? Daß keiner überlebte? Blödsinn. Du weißt doch, wie zäh das Leben ist. Die paar entlegenen Winkel der Welt, für die sich niemand interessiert, werden ungeschoren beiben. Weitgehend. Naja, einige Monate müßtet ihr euch schon eingraben. Ein kleines Opfer. Auch in Neuseeland oder Feuerland wird die Krebsrate steigen. Ein bißchen. Geh einfach jedem Raucher aus dem Weg, und du hast es schon fast wieder kompensiert. Sei nicht so wehleidig.

Worauf wartest du noch? Diese Gelegenheit erhälst du nie wieder! Du bist jetzt an einem Scheideweg der Geschichte! Angst? Um dich selbst? Aber du kannst den Startzeitpunkt doch bestimmen! Bestimmen, wo du dann sein wirst! Mit einem starken Sender kommst du von Neuseeland rüber! Der notwendige Impuls ist doch weniger als eine Sekunde lang - da kriegst du Sendeleistungen von hundert Kilowatt mühelos zustande. Mit Hausmitteln.

Skrupel? Blödsinn. Niemand zwingt dich, die Raketen wirklich zu starten, selbst wenn du den Code jetzt tatsächlich änderst. Du kannst es für dich behalten.

Oder sieh es doch mal so: Du könntest, eine gewisse Zeit nach der Stationierung, an die Öffentlichkeit treten und sagen: Seht, ich habe da noch einmal diesen Code angesehen und etwas merkwürdiges gefunden ...

Na also. Das Argument überzeugt dich. Du könntest das journalistische Gewissen der Programmiererzunft werden. Weltbekannt, vielleicht. Vielleicht werden sie voll Panik die Raketen abbauen müssen, damit nicht irgend ein zufälliges Funksignal - du weißt ja, jedes Paßwort paßt.

Die Kommentarstriche. Dort weg, hier hin. Gut gemacht. Ich wußte ja, ich kann mich auf dein Gewissen verlassen.

Ja, ich werde jetzt schweigen. Du wirst dich an nichts mehr erinnern. Nein. Tut mir leid. An den Geruch des Pfuhls wirst du dich gewöhnen müssen. Es sind schon so viele hier, und bald werden es noch viel mehr sein ...


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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Copyright © 1999 und alle Rechte verbleiben beim Heise-Verlag. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.


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