Vorwort

Die nachfolgende Geschichte habe ich in Josella's Unterlagen gefunden. Es sieht so aus, als ob sie 1988 schon mal bei der C'T vorgelegen hätte, dann aber nicht genommen wurde.

Ich habe mich entschieden, die Geschichte auf Josella's HP unterzubringen, weil dort erstens einige Konzepte diskutiert werden, die bei uns schon viel früher im Gespräch waren, als mir dies erinnerlich ist, und weil zweitens die Many-Worlds-Interpretation von Everett mir im Laufe der Jahre immer plausibler erschienen ist.

Die WebVeröffentlichung dieser Geschichte ist von Josella abgesegnet, aber ich habe die Arbeit gemacht. Deshalb sind alle Fehler mir zuzuschreiben.


Zauberwort


Josella Simone Playton


Der Boden bebte. Die Flanken des Berges rutschen immer noch, fraßen den Wald, zerdrückten alle organische Materie unter sich. Krachend schlugen Bäume um. Mehrfach mußte Roland zurückweichen, um von den Lawinen des schweren, gelben Metalles nicht erfasst zu werden. Langsam legte sich das Donnern, machte einem Scharren Platz, einem Knistern. Die Wolken aus fliegendem Gold fielen in sich zusammen. Der Berg blieb.

Es war zu einfach, viel zu einfach. Ernüchternd. Roland sah den blitzenden Berg, der vor ihm aus dem zerstörten Wald ragte, an. Gold. Vielleicht hunderttausend Tonnen? Eine Millionen? Was soll das, sagte er sich, kannst du nicht rechnen? Kegelförmiger Haufen. Grundfläche mal Höhe mal ein Drittel. Dreihundert Meter Durchmesser, hundertfünfundzwanzig Meter hoch. Macht 68000 Quadratmeter mal hundertfünfundzwanzig Meter durch drei. Etwa 2.9 Millionen Kubikmeter, eher weniger, wegen der lockeren Schüttung.

Gold hat eine Dichte von 19.3 Tonnen pro Kubikmeter. Damit wäre der Berg etwa 50 Millionen Tonnen schwer. Deutlich mehr als die 90000 Tonnen Gold, die bisher weltweit im Umlauf waren.

Er nahm eine Handvoll aus der Menge der kleinen Zehngrammbarren auf und verglich sie mit dem Original in seiner Hand. Was heißt Original? Er wußte ja, daß sie sich in nichts von dem Original unterschieden. Die, die unten in der Goldhalde zu liegen gekommen waren, waren jetzt natürlich schartig und eingedrückt. Gold ist weich. Aber im Moment der Entstehung hatten sie alle dem Original Atom für Atom, Quantenzustand für Quantenzustand geglichen.

Firmensymbol. Degussa Feingold. Die Zahl 9.999, und die Angabe 10g. Auf jedem einzelnen Barren. 50000000 Tonnen, das hieß fünf Billionen einzelne Barren. Roland zweifelte, daß die Degussa jemals soviele Goldbarren dieser Größe geprägt hatte. Das konnte diese Firma nicht, denn soviel Gold war bis jetzt nicht im Umlauf.

Sollte er den Haufen wieder wegzaubern? Er war nicht sicher, ob er die Spezifikation eindeutig formulieren konnte, und ohne das nahm die Natur keine Zaubersprüche an. Das Gold herzaubern war einfacher: Genaue Spezifikation des Originals, des Offsets der Kopien, des Zeitpunktes. Gewiß, er hätte ein entsprechend geformtes Luftvolumen auf das Gold kopieren können, und schon wäre nichts weiter übrig geblieben als eine kreisrunde Baugrube im Wald. Es würde auch Nachforschungen geben, aber nicht so viele, als wenn jemand diesen Goldberg fände. Und das würde über kurz oder lang geschehen.

Hatte ihn jemand beobachtet? Unwahrscheinlich, bei diesem Sauwetter trieb sich niemand im Unterholz herum, der da nicht wirklich zu tun hatte.

Fünfzig Millionen Tonnen Gold. Das würde den Goldpreis ins Bodenlose stürzen lassen, und wer weiß, was das Auffinden einer solchen Menge Goldes noch für Konsequenzen haben würde. Aber jetzt mußte er machen, daß er wegkam. Die erdbebenartigen Erschütterungen würden bestimmt jemanden auf den Plan rufen, um nachzusehen, und er wollte nicht damit in Verbindung gebracht werden. Die Quelle eines Erdbebens anzupeilen war ja nun wirklich kein Kunststück. Selbst jetzt zitterte der Boden noch gelegentlich unter der neuen, ungewohnten Last, und ab und zu rutschte einer der Hänge des Berges noch etwas ab. Selbst ein sehr harmlos aussehender Gold-Rutsch bewegte Tausende von Tonnen. Es war bestimmt noch nicht ratsam, den Berg zu besteigen.


Zu Hause setzte er Radio und Fernseher in Betrieb. Zunächst kam noch nichts, aber er hörte in der Ferne die Sirene eines Polizeihornes. Oder war es eine Feuerwehr? Ob sie wohl einen Zirkus mit Geheimhaltung anstellen würden? Zuzutrauen wäre es den Politikern schon. Aus dem Grunde, dieses, sein Vorurteil zu bestätigen, hatte er, unter anderen, sich die Mühe überhaupt gemacht. Allerdings - wie hält man einen hundertfünfzwanzig Meter hohen Berg aus reinem Gold geheim? Er selber, ja, die meisten Einwohner des Dorfes, in dem er wohnte, brauchten nur vor ihre Häuser zu treten oder aus dem Fenster zu sehen, und sie würden den gelb-glänzenden Kegel sehen. Bei gutem Wetter, versteht sich. Gelegentlich spürte er den Boden zittern. Unmerkbar leicht, kaum auffällig, wenn man nicht darauf achtete. Die 50 Millionen Tonnen, die der Waldboden tragen mußte, schienen immer noch nicht zur Ruhe gekommen zu sein.


Das Wetter wurde bis zum Abend nicht gut, und als nicht einmal in den Spätnachrichten etwas bekanntgegeben wurde, entschloß er sich, nach nur wenigen Stunden Schlaf, am frühen Morgen einmal nachzusehen. Er kannte sich in der Gegend gut genug aus, um sich im nächtlichen Wald bewegen zu können. Niemand würde Verdacht schöpfen - als passionierter Jogger pflegter er häufig auch zu ungewöhnlichen Zeiten auf nächtlichen Waldwegen zu laufen.

Allerdings hielt er es diesmal nicht für ratsam, den breiten Forststraßen zu folgen. Er wählte einen seiner Schleichpfade, an der S-Bahn-Linie nach Kreuzstrasse entlang. Normalerweise verwendete er diesen Weg nur tagsüber, und auch dann war er zum schnellen Laufen nicht geeignet. Jetzt, noch in der Dunkelheit, war es doch eine arge Stolperei, über Schotter und durch Disteln und Brennesseln. Dazu mußte er sich noch bemühen, möglichst wenig Geräusche zu machen.

Unterwegs dachte er an weitere mögliche Spezifikationen, die er in die Tat umsetzen könnte. Es war eigentlich verwunderlich, daß außer ihm noch niemand das Prinzip gefunden hatte. Oder vielleicht doch? Schließlich gab es Berichte, Legenden, Märchen und dergleichen, in denen der Begriff Zauberei immer wieder vorkam.

Im Grunde war es sehr einfach: Man braucht nur einen Wunsch so zu formulieren, daß es einfach für dessen Verwirklichung keine Zweideutigkeit gibt. Nicht einmal auf Quantenebene. Dann sorgt die Natur dafür, daß der Wunsch geschieht. Man braucht nicht begabt zu sein - jeder kann das. Vorausgesetzt, die Formulierung ist wirklich eindeutig.

Zum Beispiel: "Es werde Licht". Sehr schlecht. Das funktioniert nicht. Wieviel Licht? Welche Farbe? Welche Richtung? Wann und Wo? Welcher Quantenzustand für jedes einzelne Lichtquant? Roland wußte, daß diese einfache, unüberlegte Form der Wunschäußerung nicht funktionieren konnte, trotz der Behauptung der Religion, daß sie schon einmal funktioniert habe. Genausowenig, wie man einen Computer mit vagen Andeutungen programmieren konnte. Schließlich gab es ja keine Programmiersprache, die den Konjunktiv kannte. Oder Sprachbestandteile wie "vielleicht", "ungefähr" und so weiter.

Nein, die Anforderungen an Eindeutigkeit für das Wünschen, oder Zaubern, oder wie man es auch sonst nennen wollte, waren absolut. Ohne eine fundierte Ausbildung in Physik, Mathematik und Informatik war das nicht zu schaffen. Und auch dann waren nur einfachste Wünsche zu erfüllen. Zum Beispiel die Erschaffung eines Wasserstoffatoms aus dem Nichts, in genau definiertem Quantenzustand.

Es war Rolands große Entdeckung, daß die Spezifikation eines Musters auch funktionierte. Ein genau bestimmtes Volumen des Raumes mit aller Materie drin, und aller Strahlung, konnte als Schablone verwendet werden. Auch der Zeitpunkt der Kopie mußte eindeutig formulierbar sein. Dann funktionierte es. Die Kopie war genausogut wie das Original. Und alle Erhaltenssätze der Physik hatten für diesen einen Vorgang Sendepause.

Es blieb nur noch die Schwierigkeit, die Position des zu kopierenden Volumens genau zu spezifizieren, und natürlich den Zeitpunkt. Roland hatte lange mit seinem Goldbarren experimentiert, bevor es das erste Mal funktionierte.

Er hatte zum Beispiel den Goldbarren auf einen Tisch gelegt und gesagt: "Der Massenschwerpunkt des Goldatoms, das am weitesten nördlich liegt". Hört sich sehr exakt an. Aber wo waren die Grenzen des Goldbarrens: Welche Goldatome gehörten noch dazu? Mit jedem Handgriff reibt man Millionen ab, und die befinden sich in allen möglichen Entfernungen von dem Barren. Woher sollte die Natur wissen, wo der Goldbarren aufhörte? Und ab wann ein Goldatom als abgerieben gilt? Woher sollte die Natur überhaupt wissen, wo ein Atom aufhört? Die Wellenfunktion eines Teilchens wird ja nirgends richtig genau Null. Im Prinzip hätten sogar Goldatome im Alpha Centauri dazugehören können.

Das zugrunde liegende Problem war, daß der neuronale Apparat, den jeder von uns zwischen den Ohren trägt, garnicht in der Lage ist, exakte Konzepte zu fassen. Auch der Cortex etwa eines Mathematikers nicht, so überzeugt dieser von seinem eigenen Verständnis der strengsten aller Wissenschaften auch sein mag. Irgendwann und irgendwo basieren alle Konzepte, die man verstanden zu haben glaubt, auf primären Sinneswahrnehmungen und deren Zufälligkeiten. Es gibt keine zwei Menschen, die unter einem Kreis ganz genau das gleiche verstehen, oder unter einem Integral. Deshalb gibt es auch keine zwei Menschen, die das Volumen eines Goldstückes oder seinen Mittelpunkt in gleicher Weise exakt definieren würden. Absolute Exaktheit in einem menschlichen Bewußtsein ist nicht möglich, denn das Bewußtsein wurde von der Evolution als Werkzeug des Überlebens geschaffen, nicht als 'Erkenntnismaschine'. Und genau deshalb ist die Zauberei dem normalen Menschen unmöglich.

Roland hatte sehr lange experimentiert, bis er die eindeutige Spezifikation von Koordinatensystemen in der realen Welt gefunden hatte. Das Verfahren würde er als 'selbstpräzisierende Aussagemethodik' bezeichnen, wenn er je daran denken würde, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Das allerdings hatte er nicht vor.

Wenn man diese Methode, die es erlaubte, die prinzipielle Beschränktheit neuronal implementierter Intelligenz wie etwa der menschlichen zu umgehen, beherrschte, dann war allerdings alles andere schon sehr einfach. Vielfache Duplikation eines Originals ließ sich leicht mit Aussagen spezifizieren, die man in einer Programmiersprache Schleifen genannt hätte. Damit war dem Kopieren von Raumzeitgebieten keine mengenmäßige Beschränkung auferlegt. Praktisch war die Spezifikation von eindeutigen Koordinatensystemen in der Raumzeit die einzige Schwierigkeit. Wer das beherrschte, konnte zaubern. So einfach war das.

Oft hatte er sich Gedanken gemacht, warum die Natur einerseits zwingende Naturgesetze hatte, andererseit diese sich mit Zauberei umgehen ließen. Er war sich nicht schlüssig, aber eine seiner Ideen lief etwa so:

Das physikalische Universum mußte nicht notwendig real existieren. Schließlich war es im Prinzib möglich, bei Vorliegen exakter Naturgesetze das ganze Universum auf einem gigantischen Computer rechnerisch zu simulieren. Den Bewohnern eines solchen simulierten Universums würde das überhaupt nicht auffallen.

Dieser Computer mußte natürlich wirklich gigantisch groß sein. Wegen der quantenmechanischen Unbestimmtheit spalteten sich in jedem möglichen Raumzeitpunkt der Zustand des Universums in zahllose alternative Folgezustände auf. Die Zahl der Universen würde grenzenlos und exponentiell zunehmen. Um keine Entscheidung, welches Folge-Universum nun zu simulieren sei, machen zu müßen, war es denkbar, alle Folgeuniversen zu simulieren, und deren Aufspaltungen auch, und so weiter. Wie gesagt, ein undenkbar gigantischer Computer gehört dazu.

Man konnte sogar noch einen Schritt weitergehen: Wozu überhaupt einen Computer? Schließlich ist es bei einem determinierten Rechenvorgang egal, ob er tatsächlich ausgeführt wird oder nicht. Es käme ja immer dasselbe heraus. Insofern wäre es möglich, daß das Universum nicht einmal simuliert wird, weil es eine logisch unabhängige Existenz hat. Genauso, wie die ganzen Zahlen existieren, ohne daß man sie dauernd aufzählen muß, oder ohne daß überhaupt jemand die Peano-Axiome kennt.

Wiederrum würden die (ebenfalls nicht existierenden) Bewohner eines solchen nichtexistierenden Universums nichts von dessen Nichtexistenz bemerken. Auch sie existierten ja nur in Form einer Idee. Einer möglichen Evolutionslinie, die per Simulation Existenz haben könnte. Nicht mußte.

Dann aber würde eine zusätzliche eindeutige Randbedingung, die vermöge einer intellektuellen Vorstellungsleistung als eindeutiger Wunsch formuliert wird, automatisch ein neues, alternatives Universum definieren, daß sich von dem Raumzeitpunkt an, wo dieser Wunsch in Erfüllung geht, von allen anderen Universen unterscheidet. Und das existiert. Genauso wie die vielfachen neuen Universen, die vermöge der Quantenunsicherheit an jedem beliebigen Raumzeitpunkt in die Existenz gerufen werden.

Roland hatte schon bei diesem Gedanken geschwindelt. Aber es kam noch schlimmer: Wenn nur ein eindeutiger Wunsch möglich war, dann war es ja nicht einmal notwendig, daß da auch jemand da war, der diesen Wunsch auch wirklich formulierte. Als evolutionsfähige Idee existierte auch dieses Universum, in dem dieses Ereignis ohne Wunsch stattfand. Man würde es dann als "Wunder" bezeichnen müßen.

Zahllos und undenkbar war die Menge aller möglichen Universen, auch schon ohne Zauberei und Wunder. In wievielen davon gab es ihn selbst, unter wievielen Lebensumständen? In wievielen davon war er schon gestorben, vielleicht auf grausame, schmerzhafte Weise?

Spätestens an dieser Stelle pflegte Roland, lieber an etwas anderes zu denken. Die Idee der vielen, alternativen Universen, die alle nicht "wirklich" existierten, behagte ihm garnicht. Es nahm der Wiklichkeit soviel von ihrer objektiven, unabänderlichen Existenz. Und daran zu glauben war für ihn eigentlich eine Grundüberzeugung. Wozu studiert man sonst Naturwissenschaft?


Die Nacht war sehr tief, und es regnete leicht. Außerdem spürte er den Nebel, aber er konnte natürlich nichts dergleichen sehen. Lediglich seiner Ortskenntnis war es zu verdanken, daß er sich zielstrebig dem Goldberg näherte. Er wußte genau, wo er die S-Bahn-Trasse verlassen und sich durch den Wald schlagen mußte. Trotzdem war er dankbar, als der Morgen sich bemerkbar machte, vielleicht eine Stunde, nachdem er das Haus verlassen hatte.

Es schien immer noch niemand den Berg bemerkt zu haben. Er hatte eigentlich eine Abriegelung durch Polizei oder Militär erwartet. Jedoch daß sich offenbar überhaupt niemand um den Berg gekümmert hatte, war eigentlich schwer verständlich. Nun ja, er lag tief im Wald, und bei dem nebeligen Wetter hatten da diese Goldmengen vielleicht tatsächlich länger unbemerkt herumliegen können.

Der Nebel ließ nur eine Sicht von wenigen Metern zu. Er konnte jetzt genug sehen, um sich praktisch lautlos durch den Wald bewegen zu können. Nur den Berg würde er erst sehen, wenn er direkt davor stand. Er schritt kräftig aus, bog regennasse Zweige weg, wischte sich den Nebeltau aus den Haaren. Die feuchte Waldluft tat gut, nach dem kurzen Schlaf. Und dann stand er wie gegen eine Mauer gerannt.

Direkt vor seinen Füßen hörte der Boden auf. Wie abgeschnitten. Planzen, Gräser, Bäume. Wie von einem gigantischen Präzisionsskalpell. Dahinter, vielleicht dreißig Zentimeter tiefer, eine kaum bewegte Wasseroberfläche.

Er begann, um den See herumzugehen, und sein erster Eindruck bestätigte sich. Genau dort, wo der Goldberg gewesen war, befand sich ein kreisrunder See, dessen Fläche etwas größer war als die Grundfläche des Goldberges.

Gelegentlich fand er einige Goldbarren, vermutlich solche, die aus irgendeinem Grunde beim Abrutschen eines Hanges weit weggeschleudert worden waren. Immerhin, er hatte nicht geträumt.

Als er den See zur Hälfte umrundet hatte, hörte er ein Atmen. Irgendwo im Wald, schwach, unterdrückt, an der Grenze der Hörbarkeit. Vielleicht ein Tier. Vielleicht aber auch nicht. Das Licht reichte noch nicht aus, zwischen Baumstämmen und Büschen irgendetwas zu erkennen.

Dann wieder nichts mehr. Als ob das Atmen angehalten worden wäre. Ein Tier tut das nicht.

Er hatte die Vision seines eigenen Bildes, durch ein Fernrohr beobachtet. Eine senkrechte und eine waagerechte Linie, die sich auf seinem Nacken kreuzte. War es Zeit, Angst zu haben?

Er schlug sich wieder in dem Wald, in einer anderen Richtung als die, aus der das flache Atmen gekommen war. Seine hervorragende Ortskenntnis zahlte sich jetzt aus, und trotz Nebel hatte er schon nach kurzer Zeit etliche hundert Meter zwischen sich und den See gebracht. Er blieb stehen und horchte. Tropfen von den taunassen Bäumen. Das Glucksen des feuchten Waldbodens. Die Geräusche von allen möglichen Kleintieren. Nichts, was auf einen Verfolger hindeutete. Aber wenn dieser sich genauso gewandt wie er selbst bewegen konnte, dann sagte das garnichts.

Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als der Boden schwankte. Aus der Richtung des Sees drang ein dumpfes Grollen, und dann hörte er das Krachen berstender Bäume. Ein Wind sprang auf, in Richtung des Sees, er spürte seine Trommelfelle unter den Druckschwankungen flattern. Der Lärm stieg ins Schmerzhafte, er meinte, daß man das Poltern und Krachen in allen umliegenden Ortschaften hören müsste. Der Boden bockte, warf ihn beinahe um. Nichts schien mehr stabil.

Sekunden später war wieder Windstille. Der Boden zitterte noch eine Weile, er hörte etwas, was ihn an aufsteigende Gasblasen in Wasser erinnerte, und an Felsen, die einen Abhang hinunterrollten. Dumpfes Knirschen, ein verhaltenes Nachzittern des Bodens. Nach einer Minute war wieder völlige Stille. Ein Seufzen in den Wipfeln. Die Stämme hörten auf, zu schwanken. Dann hielt der Wald den Atem an, der Nebel hatte jedes Geräusch verschluckt.

Er konnte seine Neugierde nicht bezähmen, und lief wieder auf den See zu, kaum, daß der Druck in seinen Ohren nachließ. Schon nach kurzer Zeit war er am Ziel.

Der See war einem mächtigen Erdfall gewichen. Er stand vor einem Abhang. Felsen, Baumsplitter, tief drunten eine Wasserfläche, die immer noch hohe, schäumende Wellen schlug. Durch Lücken im aufgewühlten Nebel sah er gelegentlich das gegenüberliegende Ufer. Er schätzte den Durchmesser des Erdfalls auf 800 Meter, vieleicht auch auf einen Kilometer, und der Wasserspiegel mußte etwa zweihundertfünfzig Meter unter ihm sein. Immer noch löste sich Geröll aus dem Hang, und er vermutete, daß sein Standort nicht sehr sicher war. Die Felshänge unter seinen Füßen ächzten noch, als wolle die Natur das Loch nicht dulden.

Im Gegensatz zu dem kreisrunden See vorher sah der Erdfall völlig natürlich aus, wenn man vielleicht von der Tatsache absah, daß die geologischen Verhältnisse in dieser Gegend einen Erdfall dieser Art unwahrscheinlich erscheinen ließen.

Roland begriff: Jemand hatte systematisch seinen Goldberg verschwinden lassen. Als er den See zuerst erreicht hatte, war dieser jemand noch nicht fertig gewesen, hatte vielleicht selbst das Tageslicht abgewartet. Hätte er selbst sich nicht vom See entfernt, so läge er jetzt wahrscheinlich da unten, zerdrückt von Millionen Tonnen nachstürzenden Gesteins.

Er konnte sich vorstellen, wer das gemacht hatte, und wie. Er war nicht der Einzige, der zaubern konnte. Jemand wollte verhindern, daß die Existenz von Zauberern bekannt würde. Und so hatte der Goldberg zu verschwinden. Vielleicht wurde ein kugelförmiges Volumen Luft von 350 Metern Durchmesser in den Waldboden hineinkopiert. Auf ähnliche Weise wurde das entstandene halbkugelförmige Loch mit Wasser gefüllt. Das erforderte vielleicht mehrfaches Hin- und Her-Kopieren, um die nötige Menge Wasser zu beschaffen. Dann wurde noch einmal ein riesiges Volumen Luft tief in die Erde hineinkopiert, direkt unter den See. Wenn die dadurch entstandene Höhle einbrach, blieben keine regelmäßigen Formen mehr zurück. Es blieb nur ein natürlicher Erdfall. Demnächst vermutlich Wallfahrtsort für erstaunte Touristen und verwirrte Geologen. Roland kannte den Wissenschaftsbetrieb, er wußte, daß dieses Loch für einige Doktorarbeiten in der Geologie gut war.

Er machte sich auf den Heimweg, immer noch darauf achtend, nicht gesehen zu werden. Zeit wars, zum Dienst zu fahren.


Die Nachricht über den Erdfall erreichte die Öffentlichkeit noch während er am Frühstückstisch saß. Wie üblich wußte erst ein Sender die Neuigkeit, dann alle. Er stellte nacheinander die Stationen ein und lauschte amüsiert den verschiedenen Spekulationen.

Zum Frühstücken hatte er mehr Zeit als früher. Schließlich ist es sehr zeitsparend, nur Wasser für eine Tasse Kaffee zu kochen und diese dann nach Bedarf zu duplizieren. Er mußte nur aufpassen, daß er nicht in Gegenwart von anderen Leuten zu zaubern anfing. Gerade alle Kunststücke, die lediglich durch Kopieren zustandezubringen waren beherrschte er schon sehr gut. Man mußte lediglich die Koordinatentransformation im Geiste präzise formulieren.

Noch während er sich überlegte, ob er den Müll durch Kopieren verschwinden lassen oder ob er pro Forma mal wieder eine Tüte hinuntertragen sollte, damit sich bei dem Müllentsorgungsunternehmen niemand wunderte, machte es "Plobb". In seiner Küche stand plötzlich eine junge Frau, wo vorher nichts als Luft gewesen war. Genaugenommen stand sie zwanzig Zentimeter über dem Boden, in einer geduckten Haltung, wie zum Sprunge bereit. So fiel sie einfach auch den Küchenboden und gewann sofort das Gleichgewicht wieder. Roland war genötigt, seinen Mund manuell wieder zu schließen.

"Sind sie allein?" fragte sie.

"Jetzt nicht mehr. Wer sind ..."

"Gleich. Zunächst mal: Ich bin unbewaffnet. Aber keine Tricks. Sonst ersetze ich Ihr Großhirn durch ein Stück Mauerwerk!"

Sie setzte sich an den Tisch, ohne zu fragen. Auch Roland sagte nichts. Er mußte erst einmal die Vorstellung von einem Ziegelstein in seinem Schädel verdauen. Er zweifelte keinen Moment an dem, was sie sagte. Schließlich, mit etwas mehr Übung könnte er selbst ...

"Seit wann können sie es?" fragte die Frau.

"Was?"

"Also bitte! Das ist kindisch! Sie wissen, wovon die Rede ist, und ich weiß, daß Sie es wissen. Also: Seit wann?"

Roland gab auf. Schließlich hatte schon die merkwürdige Art ihres Erscheinens darauf hingedeutet, daß sie viele Möglichkeiten hatte.

Als er nun aber mehr oder weniger stockend seine Entdeckung erläuterte, hatte er den Eindruck, daß sie garnicht richtig zuhörte. Offenbar ging es weniger darum, daß er die grundlegende Idee der Zauberrei kannte, sondern darum, welche Anwendungen er sich bereits ausgedacht und, wichtiger, ausprobiert hatte.

"Und außer dem Goldberg war nichts?"

"Nur mein täglicher Kleinkram. Da mache ich manchmal dies und jenes."

"Haben Sie Ihren Job aufgegeben?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Ich wollte nicht auffallen."

"Gescheit. Aber was haben Sie für die Zukunft vor?"

"Ich habe noch kaum darüber nachgedacht."

Sie grinste: "Aber ein bißchen schon, gell?" Erst jetzt machte sie es sich auf dem Stuhl an der anderen Seite des Küchentisches bequem.

"Ich glaube," sagte sie bestimmt, "daß Sie zumindest für heute sich in der Firma entschuldigen sollten. Wir haben etwas zu reden. Können Sie sich freinehmen, oder krank machen?"

"Beides. Aber ich kann eine ganztägige Kernzeitentnahme machen. Fällt vielleicht am wenigsten auf. Jeder wird glauben, ich sehen mir das Loch an."

"Gut. Tun sie das." Sie lehnte sich zurück, und plötzlich hatte sie ebenfalls eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand. Allerdings war es keine Kopie von Rolands Tasse, sie schien sich ein anderes, weit entferntes Original ausgewählt zu haben.

"Es ist jetzt noch niemand in der Firma. Erst um neun Uhr kann man mit Sicherheit annehmen, daß ..." Roland hatte durchaus nicht die Absicht, sich in der Firma abzumelden. Es wäre vielleicht besser, seine Vorgesetzten im Unklaren zu lassen. Falls ihm hier etwas passieren sollte, würde man so rascher Nachforschungen anstellen.

Die Frau schien diesen Hintergedanken nicht zu erraten, sondern nickte nur gleichgültig.

"Gut. Zum Geschäft. Wir haben wenig Zeit. Wie Sie vielleicht erraten werden, sind Sie bei weitem nicht der einzige Zauberer. Es werden immer mehr. Die Explosion an Qualifikation in den letzten Jahrzehnten in den Industrienationen sorgt dafür. Zuviele kommen auf die richtige Ideen.

"Dann aber sind die Vorstellungen, was man mit den neuen Fähigkeiten anfangen sollte, sehr verschieden. Harmlos ist noch etwa die Duplikation von Blut oder paarigen Organen für Autotransplantationszwecke. Sie können es sich ja leicht vorstellen, daß man eine kapute Niere leicht durch eine Kopie der anderen ersetzen kann. Keine Abstoßungsreaktion, keine Komplikation. - Krebs durch gesundes Gewebe ersetzen, Ablagerungen in Aterien durch Blut überkopieren und auf diese Weise Infarkt behandeln, Hauttransplantationen bei Verbrennungen - allein in der Medizin gibt es viele Beispiele."

Sie dozierte, als habe sie ihren Vortrag schon häufiger gehalten.

"Zauberer mit solchen idealistischen und altruistischen Ideen sind jedoch in der Minderzahl. Mehr kommen schon auf die Idee, knappe Rohstoffe in Massen herzustellen und zu verkaufen. Oder gleich Geld zu duplizieren. Ja, sogar ein Goldberg in den Wald zu setzen hat vor Ihnen schon einmal jemand versucht!

"Und dann die ganz spinnerten, die diffuse Vosstellungen von der Weltherrschaft haben, oder Weltverbesserer, die massiv in irgendeinen Einzelaspekt der Welt eingreifen möchten. Wir hatten schon sehr merkwürdige Ideen. Da war etwa jemand, der schon dabei war, das Wasser der Meere durch Süßwasser zu ersetzen. Ein anderer wollte die Sahara beregnen, ein Dritter fing an, Lebensmittelpäckchen in dichten Wolken über Kalkutta zu materialisieren. Dann gibt es natürlich immer wieder welche, die das Heil der Welt im politischen Mord suchen. Ein nur drei Zentimeter großes Gebiet im Gehirn umzukopieren reicht aus. Und das fällt bei der Autopsie kaum auf.

"Sie sehen, wenn wir zulassen würden, daß jeder Naivling, der gerade ein bißchen zaubern kann, weil er das Glück hatte, in der richtigen Richtung ausgebildet zu werden, so rumzaubert wie er möchte, dann würde die Welt in ein Chaos versinken.

"Wenn sie das noch nicht überzeugt, dann fällt mir noch ein Fall ein. Es war auch ein Physiker, der er für eine großartige Idee hielt, das ganze Sonnensystem in 120 Lichtstunden Entfernung zu kopieren."

"Hat er?" fragte Roland.

"Es war einer der Fälle, die fast durch antichronologisches Kopieren behoben werden mußten. Der Mann hätte verschwinden müßen, bevor er dieses Experiment anstellte. Gottseidank waren wir in der Lage, das andere Sonnensystem verschwinden zu lassen, bevor die dasselbe mit uns machten."

Roland schwindelte es:

"Antichronologisch - heißt das, daß man in der Zeit zurückkopieren kann?"

"Ja."

"Und das Zeitparadoxon? Wie verhält es sich damit?"

"Ich denke, Sie sind Physiker? Sind sie mit der many-worlds- Interpretation der Quantenmechanik nicht vertraut? Eine Wirkung in der Zeit rückwärts erzeugt sofort eine Kopie des gesamten Universums, in der diese Wirkung in Erscheinung tritt. Genauso wie jeder andere Kollaps eines Qantenzustandes auch. Aber das Original existiert weiterhin - irgendwo. Mit dem anderen Sonnensystem. Wer weiß, wie es jetzt da drunter und drüber geht."

"Und bei uns?"

"Geht es noch nicht drunter und drüber. Jedenfalls nicht, weil Zauberer Unfug anstellen. - Es ist unsere Aufgabe, dies für alle Zeiten zu verhindern."

Pause. Roland fröstelte. Man wollte also auch ihn hindern, ganz klar. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn verschwinden zu lassen. Daß er überhaupt noch lebte ließ darauf schließen, daß man seine Kooperation brauchte, wofür auch immer. Schließlich war er ein Zauberer.

"Und jetzt?" fragte er. Die junge Frau, die sich immer noch nicht vorgestellt hatte, schien auch schon der Meinung zu sein, daß Roland erriet, worauf sie hinauswollte:

"Das kommt auf Sie an. Wollen Sie weiter makrokopischen Unfug anstellen, oder wollen Sie etwas Konstruktives leisten?"

"Ich nehme an," sagte Roland zögernd, "wenn ich mich für den makroskopischen Unsinn entscheide, dann werde ich beseitigt?"

"So ist es. Auf der Stelle." Sie beugte sich vor: "Sehen Sie es so: Dieses ist ein Universum unter vielen. Unter sehr vielen. Nicht alle davon sind geeignet, Bewußtsein zu erzeugen. Andere Naturgesetze, und so weiter. Hier, genau in diesem Universum, ist Leben und Bewußtsein möglich. Vielleicht nur sehr gerade eben - wir wissen ja, wie groß die Gebiete im All sind, in denen kein Leben vorkommt.

"Es steht dringend zu vermuten, daß dieses Universum nicht weiter die Möglichkeit des Lebens unterstützen wird, jedenfalls in dieser Gegend, wenn sich die Kenntnis des Zauberns zu sehr verbreiten wird. Das ist nichts Metaphysisches. Es ist einfach so, daß ein Bewußtsein wie das unsere mit praktisch unbegrenzter Macht nicht fertig wird. Die Entwicklung des Universums, die Evolution, die sich seit Jahrmilliarden aufgrund gradliniger Naturgesetze vollzieht, würde ständig und immer wieder durch irgendwelche Zaubereien korrigiert. Verschiedene und gegensätzliche Interessen würden sich mit exponentiell wachsenden Machtmitteln austoben. Das muß verhindert werden.

"Verstehen Sie? Erst der Mangel und die relative Machtlosigkeit des Geistes, erst das Ausgeliefertsein des Individuums in eine potentiell feindliche Wirklichkeit mascht den Geist erst möglich. Die Evolution hat uns an den Machtmangel angepasst - nicht an die Allmächtigkeit! Im Zustand der Allmächtigkeit wird der Mensch mit der chaotischen Struktur der Wirklichkeit und seiner selbst nicht fertig!

"Die Evolution des Geistes, die Geschichte, das sind die Beispiele chaotischer Systeme par excellence. In ein chaotisches System lokal Macht einzubringen macht es unstabil. Immer. Besonders, wenn es sich um soviel Macht handelt. Das darf es nicht geben. Und wir werden es verhindern."

"Und wie? Mit Zauberrei?"

"Unter anderem, ja. Sehen Sie, wenn Zauberei nicht möglich wäre, dann stellte sich das Problem nicht. Da sie aber möglich ist, muß man, auch mit den Mitteln der Zauberrei verhindern, daß sie mehr als notwendig angewendet wird. Und notwendig heißt: notwendig, um Zauberrei zu verhindern.

"Ich weiß, daß es zunächst schwerfällt, all die nützlichen Dinge, die man zaubern kann, zu unterbinden. Rohstoffe unbegrenzt, der Hunger in der Welt könnte verschwinden, die medizinischen Anwendungen. Aber es geht nicht. Das Leben braucht den Mangel, die Begrenztheit der Handlungsmöglichkeiten. Allmacht ist für uns absolut nicht zuträglich! Ich sagte es bereits. Wir wissen nicht, wie ein Intellekt aussieht, der mit Allmacht umgehen könnte. Vielleicht ist das Konzept einer allmächtigen Intelligenz ein Widerspruch in sich!"

Roland dachte daran, daß man mit dieser Vermutung, wenn man sie in den richtigen Kreisen ausspricht, sicher viel Anstoß erregen kann. Kann man doch daraus die Behauptung herleiten, daß Gott selbst entweder nicht allmächtig oder nicht intelligent ist. Er behielt diese Überlegung aber für sich.

"Wir Menschen leben immer nach dem Glauben: Wenn etwas gut ist, dann muß mehr davon besser sein. Solange der Mangel dafür sorgt, daß diese Idee lediglich ein frommer Wunsch bleibt, ist alles okay. Aber schon die Entwicklung unserer Zivilisation zeigt, was passieren kann, und auch passiert, wenn Mangel überwunden werden kann. Wenn Resourcen immer mehr zunehmen und in den Händen weniger Individuen liegen. Die Zauberrei ist nun die Extrapolation davon. Unbegrenzte Macht. Es geht nicht. Es darf nicht sein. Selbst, wer mit den besten Absichten handelt, handelt falsch, wenn er die Wirklichkeit massiv verändert. Haben jemals Weltverbesserer im Großen und auf einem Schlag etwas anderes bewirkt als vielfaches Leiden?

"Kleine Schritte bringen die Welt weiter. Evolution statt Revolution. Immer wieder das Ziel und die Richtung neu bestimmen. Revision, Nachdenken, Anpassen, das Untaugliche wegwerfen. Es gibt keine schnellen Patentlösungen, für nichts. Es ist kein Platz in der Welt für Zauberrei. Keine Aufgabe. Dieses Universum verträgt sich damit nicht. Ja, mit dieser unbegrenzten Macht gibt es nicht einmal einen tätigen Altruismus. Nicht einmal Nächstenliebe. Vergessen Sie das Bild mit der Speisung der fünftausend. Wo steht denn geschrieben, wie die fünftausend am nächsten Tage satt geworden sind? Und was sie machen, wenn sie auch zaubern lernen?"

Sie hatte zunehmend eindringlicher gesprochen. Roland bemerkte, daß sie sich schon ihre dritte Tasse Kaffee gezaubert hatte. Wie war das noch mit dem Zaubern, nur um Zauberrei zu verhindern?

"Also gehören Sie einer Organisation an, die das Zaubern verhindert, ist das richtig?" fragte er.

"Ja."

"Und in dieser Organisation sind nur Zauberer vertreten?"

"Ja. Aber Sie müßen das sich nicht so vorstellen, wie man sich gemeinhin eine Organisation vorstellt. Es gibt keine Hierarchie. Die Mitglieder überwachen sich gegenseitig. Jeder darf seinem persönlichen Leben nachgehen, und der Aufgabe, hemmungsloses Zaubern zu verhindern. Für das letzte darf Zauberei verwendet werden. Für das erste nicht."

"Und wer die Spielregeln verletzt?"

"Stirbt. Vielleicht fällt ein Ziegel vom Dach, vielleicht setzt sich ein Trombus in einer Koronaraterie fest. Es wird ganz natürlich aussehen. Das ist die Definition der Organisation: Die Menge aller Zauberer, die noch nicht tot sind."

Sie lehnte sich entspannt zurück.

"Ja, eigentlich sind wir fertig. Also, ich denke, wir haben uns verstanden: Keine Goldberge mehr! Dieses Mal haben wir Sie noch gewarnt! Das nächste Mal sind Sie dran!"

"Moment mal," unterbrach Roland, "wenn diese Organisation so funktioniert wie Sie das angedeutet haben, dann müßte ich ja auch jemanden überwachen!"

"Das können Sie noch nicht. Vielleicht wollen Sie es auch nicht oder noch nicht. Sie müssen das Potential der Kunst des Zauberns noch etwas mehr ausloten, bis Sie wissen, wie man Zauberei nachweisen kann, deren Wirkung man nicht direkt sieht."

"Das heißt doch, ich muß üben?"

"Natürlich."

"Aber ich darf doch nicht ..."

"Nicht so, daß es nach außen hin sichtbar wird. Zaubern Sie meinetwegen ihren Müll weg, wenn Sie nur ab und zu noch eine Tüte runterbringen. Sie haben es bis heute ja schon so gehalten. Nur gehen Sie weiter zur Arbeit und verschaffen Sie sich keine wesentlichen materiellen Vorteile mit der Zauberrei. Das ist alles."

"Und dann?"

"Sie werden schon spitz kriegen, wie man herausbekommt, ob irgendwo gezaubert wird, und was. Kommen Sie nicht drauf? Bauen Sie einfach Auto-Korrelationsaussagen in die Formulierung der Zauberaussage ein. Ein bißchen programmieren. In dem Moment, wo jemand etwas Makroskopisches kopiert, sind ja zwei Raumzeitgebiete vollkommen identisch. Danach muß man suchen, das ist alles."

Sie stand auf:

"Ich muß jetzt gehen. Haben Sie Teleportation schon probiert? Sich selbst kopieren und den Originalraum mit Luft überschreiben. Ganz einfach. Aber wie ich sagte: Nur zum Üben, und um Zauberrei zu verhindern. Sie müßen sich daran gewöhnen, daß keiner Ihrer Zaubervorgänge unbeobachtet ist und noch nie war. Sie selbst werden niemals mehr unbeobachtet und alleine sein. Viel Spaß beim Leben im Goldfischglas. Tschüß!"

Sprach's und verschwand. Nebelfetzen lösten sich in der Küche auf. Außerdem fehlte eie Ecke vom Küchentisch. Vermutlich hatte sie das Volumen, das sie überkopierte, sehr nachläßig spezifiziert. Wie sollte man irgendjemandem diesen geometrisch perfekten Schnitt durch einen Küchentisch erklären, ohne Gedanken an Zauberrei zu bewirken?

Wieviele Zauberer es wohl schon gab? Hunderte? Tausende? Und die sollten sich praktisch kaum bemerkbar machen, weil sie sich untereinander umbrachten, wenn jemand größere Wirklichkeitsveränderungen unternahm? Oder unternehmen wollte? Das sollte funktionieren? Oder waren tatsächlich häufig diese antichronologischen Korrekturen, von denen sie gesprochen hatte, erforderlich? Das hieße, wenn er richtig verstanden hatte, daß es schon zahllose Paralelluniversen gab, in denen doch jemand angefangen hatte, irgendwelche großen Veränderungen zu bewirken. Und dann kam man damit doch durch?

Wenn man schnell genug war? Wenn man herausbekam, wer all die anderen Zauberer waren, und sie ausschaltete? Gab es einen Trick, mit dem man nicht nur Zaubervorgänge nachweisen konnte, was er ja noch ausprobieren mußte, sondern sogar Zauberer, die gerade nicht zauberten, zu identifizieren?

Er mußte es herausbekommen. Mit wenigen Schritten war er in seinem Arbeitszimmer und griff in den Bücherschrank. Formale Logik, Statistik, vielleicht würde ihm sogar das Buch vom Hofstadter helfen. Der Zauberspruch konnte so komplex sein wie er wollte, er mußte nur eindeutig sein. Er würde die anderen Zauberer beseitigen können! Die ganze Welt, das Universum würde sein Experimentiergarten werden können. Er würde diesen Schritt tun! Denn schließlich - ihre Gedankengänge waren ihm ja nicht fremd. Er würde keine großen Wirklichkeitsveränderungen unternehmen, er doch nicht.

Aber dann - wer schützte ihn davor, nicht versehentlich Opfer einer Zauberer-Beseitigungsmaßnahme zu werden, nur weil irgend jemand irrtümlich annahm, er mißbrauche die Zauberrei? Mußte er nicht dafür sorgen, daß das nicht geschehen konnte? Er wollte schließlich leben.

Die Idee, sich selbst zu kopieren, um sich die Arbeit leichter zu machen, indem er sie mit sich selbst teilte, verwarf er gleich wieder. Sich selbst kann man als Antagonisten schon garnicht brauchen.

Es kam ihm die Idee, daß, wenn es im Prinzip möglich war, einen Zauberer an sich zu identifizieren, es auch möglich sein mußte, einen Zauberer mit Allmachtsgedanken zu identifizieren und zu beseitigen, vielleicht sogar durch einen einzigen Zaubervorgang für alle Zeit. Wenn also sein diffuser Plan, der erst allmählich Gestalt annahm, möglich war, dann war es auch möglich, die Ausführung solcher Pläne zu verhindern.

Dachte er jetzt Gedanken, die er besser nicht denken sollte? Die verboten waren? Ja, war der Besuch bei ihm eben vielleicht nur ein Experiment, um herauszubekommen, wie er sich dann verhielte, um schneller und sicherer sein wahrscheinlichstes zukünftiges Handeln bestimmen zu können? War der Besuch eine Falle gewesen? Lieferte er jetzt eben gerade die Argumente für seine eigene Exekution?

Dann mußte er noch schneller handeln. Er schlug hastig ein Buch auf, nahm kaum wahr, um welches es sich handelte. War es möglich, Autokorrelationsaussagen aus Alternativ-Wirklichkeiten, die durch Zauberei verhindert werden sollten, in die Zauberaussage einzubauen? Schließlich - in einem gewissen Sinne existierten ja auch verhinderte Wirklichkeiten.

Er sah, wie eine seiner Kurzhanteln vor seinen Augen verschwand. Was er nicht sah, war, daß sie im gleichen Augenblick oben in einem seiner Regale wieder erschien und auf einem schiefliegenden Buch zu liegen kam. Sie begann sofort zu rollen.

Noch während Roland die Implikationen des plötzlichen Verschwindens der Hantel klar wurde, kippte sie über die Kante des Regalbrettes. Roland sah nach rechts und links, dann fiel ihm ein, daß es das logischste wäre, nach oben zu blicken. So traf ihn die Hantelstange genau zwischen die Augen, getrieben von der Wucht von fünfzehn Kilo fallendem Eisens. Diese verteilten sein brilliantes Gehirn so auf seinem Schreibtisch, wie es vier Tage später von der Polizei gefunden wurde.


BerabeitungsZeitPunkte:

1988-09-17 23:59:59 1989-12-26 14:14:14 1990-12-30 15:58:27 1992-10-12 00:54:09 1997-07-28 19:59:59 1999-07-02 16:59:59 2000-09-13 11:26:59
© 1988 .. 2000 Josella Simone Playton 2000-09-13 11:26:59 MESZ


Zurück zu meiner Hauptseite